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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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danach.
    Aber ich kann es nicht lange auskosten. Sie schieben mich in einen Bus, denselben, mit dem ich gekommen bin. Keiner setzt sich zu mir.
    Der Bus verlässt das Gelände des Dementio und nimmt eine lange, gleichmäßige Fahrt auf, begleitet von einem Trupp Motorräder. Es ist genauso, wie ich hierhergekommen bin, nur in die entgegengesetzte Richtung.
    Bald höre ich die Geräusche der Stadt. Straßenverkehr, Stimmen, Lärm der Baustellen, an denen wir vorbeifahren. Ich wünsche mir, dass es ewig dauert. Aber schon hält der Bus an und ich werde rausgezerrt. Mir ist sehr kalt, ich trage immer noch mein Nachthemd, der Wind weht genau drunter. Es ist furchtbar laut. Ich werde weitergeführt, einen Gang entlang, der mir unendlich lang vorkommt, und mit jedem Schritt verstärkt sich das mich umgebende Dröhnen.
    Und dann nimmt man mir endlich die Augenbinde ab.
    Ich sehe in Tausende Gesichter, die alle zu einer ausufernden Masse verschmelzen, die punktgroßen Augen, die Striche, wo Münder und Nasen sein sollen, als wären sie von einer Kinderhand gepinselt worden. Ich senke den Blick auf meine Füße. Sie stehen auf einem Holzpodest, das provisorisch zusammengeschustert wirkt. Es kann gar nicht zu diesem Ort passen, den ich sofort wiedererkannt habe. Als Kind war ich oft hier, mit dem Mann, den ich damals meinen Vater genannt hatte. Es ist das HYDRAGON-Stadion, benannt nach dem Hauptsponsor. Deswegen hatte mein Vater Freikarten für Sport- und Hundewettbewerbe und Zirkusvorführungen, die in dieser Arena ausgetragen wurden.
    Jetzt bin ich Teil der Vorführung. Schlimmer noch, der Mittelpunkt. Mein Rücken ist gegen einen Pfahl gedrückt, während einer der Polizisten meine Kette drum herumwickelt. Ein anderer schleppt eine Zisterne heran. Die unzähligen Augen auf den Zuschauerrängen verfolgen jede seiner Bewegungen. Um mich herum liegt kunstvoll aufgestapeltes Holz, das nun großzügig mit Flüssigkeit begossen wird. Mir fallen die Bilder aus den alten Büchern meiner Mutter wieder ein und dazu auch der Begriff, den ich noch nie ausgesprochen gehört hatte, nur gelesen. Es ist ein Scheiterhaufen.
    Das war es, denke ich. Alles, worauf ich mir etwas eingebildet habe, ist nichtig. Ich werde meine Familie nie wiedersehen. Ich hätte mich anders von Ksü verabschieden müssen. Ich werde eine von den vielen Frauen sein, die von der Normalität getötet wurden, werde zu den zerstörten Gestalten gehören, mit deren Blut der Dementio-Boden getränkt wurde. Hoffentlich geht es jetzt endlich mal schnell.
    Ich darf mir keinen Zusammenbruch erlauben, obwohl es wirklich schwerfällt. Schließlich habe ich schon eine gefühlte Ewigkeit eingesperrt verbracht, so lange, dass ich nicht mehr daran geglaubt hatte, dass sie mich wirklich töten würden.
    Ich sehe um mich herum, versuche verzweifelt und vergeblich, in dieser Menge ein vertrautes Gesicht zu entdecken, das mir hilft, aus diesem Albtraum wieder aufzuwachen. Aber meine Augen haben wieder ihre normale Sehschärfe und ich habe keine Chance, aus der Entfernung bekannte Gesichtszüge auszumachen, selbst wenn welche da wären. Sind Ingrid und Reto auch gekommen? Wird es im Fernsehen übertragen?
    Kaum habe ich diesen Gedanken, baut sich eine Reihe von Fotografen mit aufgerichteten Kameras vor mir auf. Ich zucke zusammen, weil ich die Objektive zuerst für Waffen halte. Ein wildes Klicken setzt ein, während die Fotografen mir zurufen, ich soll in ihre Richtung schauen und dabei nicht blinzeln, bisschen anders gucken, ein kleines Lächeln vielleicht? Ich fletsche die Zähne und knurre wie ein Tier.
    »Zu viel!«, ruft einer von ihnen in das hektische Klicken und Summen hinein.
    Die Kameraleute verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Offenbar durften sie nur ein paar Vorab-Bilder machen, nicht den ganzen Vorgang aufnehmen. Warum mache ich mir überhaupt Gedanken darüber?
    Ein Mann in Mintgrün klettert zu mir aufs Podest, kommt aber nicht näher, sondern bleibt am Rand stehen. Er dreht mir den Rücken zu, in seiner Hand zittert ein Mikrofon. Seine Stimme geht mir unter die Haut, lässt mein Zwerchfell zusammenkrampfen. Es ist die kratzende Stimme aus den Befragungen, die selten zu hören war, aber wenn, dann hatten alle anderen den Atem angehalten.
    »Liebe Bürger und Bürgerinnen. Heute ist ein bedeutender Tag für die Normalität. Sie alle wissen sicherlich, dass wir in der jüngsten Zeit erneut all unsere Kraft dafür einsetzen mussten, um die aufkeimende

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