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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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sich machen lassen. Aber wenn ich sie laufen lasse, wie sie es verlangt, wird ihr da draußen etwas Furchtbares zustoßen. Sie braucht dringend meinen Schutz.«
    »Du schützt sie zu Tode«, sage ich. »So kenne ich dich gar nicht.«
    »Ich kenne mich selber nicht«, sagt er.
    »Seit wann arbeitest du hier?«, frage ich.
    »Seit wir zurück aus dem Wald sind«, sagt er. »Nach uns wurde auch gefahndet. Ich habe mich bei der Polizei gemeldet und gesagt, ihr hättet uns entführt.«
    »So war das also«, sage ich. »Und jetzt bist du ein richtiger Experte in der Pheensache. Herzlichen Glückwunsch. Schämst du dich eigentlich nicht?«
    »Alles, was wir über euch gelernt haben, ist falsch«, sagt er.
    »Ich hasse es, wenn du so über mich redest«, sage ich.
    Er schweigt. Ich höre, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt, als würde ihm jeder Atemzug wehtun.
    »Du weißt wirklich nicht, wer du bist«, sagt er.
    »Dann sag du es mir«, verlange ich. »Du scheinst es offenbar zu wissen.«
    Er streckt seine Hand durch das Gitter – ich spüre einen Luftzug und den Duft seiner Haut ganz in meiner Nähe – und berührt meine Wange.
    »Du musst mich hassen«, sagt er.
    »Ich wünschte, ich könnte es«, sage ich.
    »Dann versuche es«, sagt er.
    »Du versuchst es auch und es gelingt dir.«
    »Ja«, sagt er.
    Noch nie hat mir ein Ja so wehgetan.
    »Nimm mir diese Augenbinde ab, ich will dich sehen«, verlange ich.
    Er schüttelt den Kopf – auch das höre ich. »Ich bin nicht befugt«, sagt er. »Mund auf.« Er schiebt mir einen Schokoriegel zwischen die Zähne und dann geht er weg, während ich in meinem Käfig bleibe, mich mit beiden Händen am Gitter festkrallend.
    Seit ich weiß, dass Ivan nicht mehr davon ausgeht, dass er hinter der Scheibe für mich unsichtbar ist, bekommen die Befragungen einen pikanten Beigeschmack. Während ich mir die Antworten überlege, habe ich Ivans Gesicht vor Augen –
schmal, weiß, hervortretende Wangenknochen, gerade Augenbrauen. Dabei sehe ich mit Absicht nicht in seine Richtung.
    »Sag mal, Juliane«, fragt die Samtstimme, »hast du nie versucht, ein Quadrum herzustellen wie deine Mutter auch?«
    »Nö«, antworte ich. »Ich bin über das Stadium von Strichmännchen nicht hinausgekommen.«
    »Wer hat die Quadren erworben?«, mischt sich eine andere Stimme ein.
    »Keine Ahnung«, sage ich. »Ich weiß nur von alten Freunden, die nicht mehr leben.« Wieder die gründliche Bemühung, nicht in Ivans Richtung zu schauen. Wahrscheinlich bekommt sein blasses Gesicht jetzt etwas Farbe.
    »Mehrere Quadren, die uns vorlagen, sind unabhängig voneinander zu gleicher Zeit unbrauchbar geworden«, schmeichelt sich die Stimme durch den Raum. »Ist dir ein Grund dafür bekannt?«
    »Sie meinen, sie sind verbrannt?«, frage ich.
    Sie schweigen. Ich registriere wenige, vorsichtige Bewegungen und seufze.
    »Hast du eine Erklärung für dieses Phänomen?«
    »Habe ich«, sage ich. »Als ich im Wald war, habe ich mich mit meiner Mutter gestritten. Und ich war so wütend, dass ich ein brennendes Holzstück aus dem Ofen griff und in den Wald warf. Und sagte, dass alles brennen soll, weil ich meine Mutter hasse. Wörtlich so: Brennen soll alles. Aber ich hätte wirklich nicht gedacht, dass der Wald so schnell Feuer fängt. Und dass«, schluchze ich plötzlich, obwohl ich mir vorgenommen habe, nicht vor ihnen zu weinen, »dass auch die Quadren Feuer fangen und ich für immer ausgesperrt bleibe.«
    Sie schweigen verdächtig lange. Der Geruch ihres Schweißes verrät mir Angst und Aufregung. Noch nie haben ihre Herzen, von einem abgesehen, so schnell geklopft. Ich habe einen wunden Punkt berührt. Ich kann nicht in sie hineinschauen. Aber ich kriege ihre neue Unruhe mit.
    »Ihnen ist kein Quadrum bekannt, das heil geblieben ist?«, fragt eine der Stimmen, die ich noch nie gehört hatte, leise, körperlos.
    »Nein«, sage ich. »Ich würde ja selber gern hoffen, dass irgendwo noch eins ist. Aber ich glaube nicht so recht daran.«
    »Die Quadren sind, wie wir von Ihnen und auch aus anderen Quellen wissen, das Tor zum Wald. Jetzt, Ihren Schilderungen nach, für immer vernichtet. Ihre Mutter war die Einzige, die die Zugänge herstellen konnte. Sie befindet sich derzeit im Wald. Richtig?«, fasst die leise Stimme zusammen.
    »Richtig«, sage ich.
    »Wie erklären Sie sich dann, dass der Wald erneut dabei ist, die Stadt zu überwuchern, obwohl die Zugänge nicht mehr da sind?«
    »Keine Ahnung«, sage ich. »Ich bin

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