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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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meinesgleichen zu tun haben will und alle Zugänge vernichtet hat.
    Die Vorstellung, nicht sterben zu können, für immer in dieser Welt gefangen zu sein, ohne meine Mutter und meine Geschwister wiedersehen zu dürfen, lässt mich zusammensinken und laut weinen, was in der Hölle, die sich gerade um mich herum abspielt, zum Glück niemanden interessiert.

Asche
    Die sechs Flutlichtsäulen des Stadions ragen in den Himmel wie die Beine eines toten Insekts, das auf dem Rücken liegt. Ich stehe mittendrin, allein auf einem Feld Asche, und schaue hoch. Es ist vorbei, das Feuer ist erloschen, es hat wahrscheinlich alles verbrannt, was es kriegen konnte. Bin ich denn noch am Leben? Jedenfalls stehe ich mehr oder weniger aufrecht, wandere über die mit weißgrauem Belag überzogenen Flächen.
    Hier und da häuft sich die Asche, ich bemühe mich, nicht mehr hinzuschauen, seit ich in einem dieser Hügel eine zusammengekrümmte Silhouette erkannt habe. Keine Ahnung, wie viele hier liegen und wie viele es rausgeschafft haben. Die Notausgänge sind zusammengeschmolzen, das Plastik hat sich schwarz verfärbt und zu bizarren Formen verzerrt.
    Ich habe überlebt und ich bin frei.
    Ich klettere erneut aufs Podest. Vom Scheiterhaufen ist nichts mehr übrig, aber meine Kette finde ich wieder. Ich nehme sie in die Hand, komischerweise beruhigt mich das Gewicht in meinen Fingern.
    Und dann höre ich, wie jemand stöhnend meinen Namen flüstert.
    Er liegt zusammengerollt da und sein Gesicht ist so schwarz, dass ich keine Gesichtszüge mehr erkennen kann. Umso erstaunlicher, dass ich sofort weiß, wer das ist. Er liegt genau an der Stelle, an der er gestanden hat, um das Streichholz auf den Scheiterhaufen zu werfen, als hätte er sich gar nicht bewegt, nicht mit den anderen um den Fluchtweg gekämpft. Als wäre er zwischendrin auch nicht zu mir gekommen, um mich loszubinden.
    Ich nähere mich vorsichtig und knie mich neben ihn.
    »Sie leben«, sage ich fast beiläufig.
    »Du auch«, flüstert er.
    »Dank Ihnen.«
    »Nein«, sagt er. Und dann, kaum hörbar: »Ich bin so froh.«
    Obwohl der Wortwechsel denkbar kurz ist, verliere ich jetzt trotzdem den Faden. »Wie bitte?«
    »Glücklich – dass – du – lebst«, sagt das, was von ihm übrig geblieben ist.
    »Tja«, sage ich. »Vielleicht bin ich ja doch eine Phee.«
    »Offenbar«, sagt er und in seine verbrannten Gesichtszüge kommt Bewegung, die ich für ein Lächeln halte.
    »Das hätten Sie gar nicht gedacht, was?«
    »Nein«, flüstert er. »Ich bin fest davon ausgegangen, dass du ein normales Mädchen bist.«
    »Und warum haben Sie mich dann auf den Scheiterhaufen geschickt?«
    »Das war nicht ich«, sagt er. »Das war die Normalität. Ich hatte keine Wahl. Die Trennung deiner Eltern, Juli, und alles, was danach kam, hat die Gesellschaft erschüttert und eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Es musste ein Zeichen gesetzt werden. Es musste etwas her, was sie wieder zusammenhält.« Die letzten Worte kommen mehr geatmet als gesprochen. Wäre ich jetzt gnädiger, würde ich ihn jetzt nicht mit Fragen quälen. Aber Gnade ist nicht mehr mein Ding.
    »Und dieses Etwas war ich«, fasse ich zusammen.
    »Es war die Angst vor dir«, korrigiert er. »Und die Freude um deine Verhaftung.«
    »Und die Vorfreude auf meine Hinrichtung«, sage ich. »Warum haben Sie dafür nicht wenigstens eine richtige Phee genommen?«
    Sein schwarzes Gesicht verzieht sich in einer Art Lächeln. »Wie sollen wir eine richtige Phee auf den Scheiterhaufen kriegen, Juliane? Wo sollen wir überhaupt eine echte Phee herkriegen? Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich sie alle für eine Erfindung des kollektiven Unbewussten gehalten.«
    »Aber Sie wissen es besser?«, frage ich.
    »Oh ja«, sagt er und sein Seufzer geht in ein Stöhnen über.
    Ich stehe auf und wandere wieder herum auf der Suche nach etwas, was ihm helfen kann. Mir schwebt Wasser oder eine Salbe vor, beides ist im Moment vollkommen unmöglich. Ich wirbele mit meinen nackten Füßen die Asche auf, die flockenweise auseinanderfliegt.
    Dann versuche ich, eine der verschmolzenen Türen zu öffnen, hinter der sich laut verbogenem Schild einmal eine Toilette befunden hat.
    Ich schaffe es reinzukommen, aber schneide mich an dem wieder erhärteten Plastik. Das geflieste Innere der Waschräume ist ziemlich heil. Ich drehe das Wasser auf. Der Wasserstrahl kommt mir wie ein Wunder vor. Ich wasche mir das Gesicht und die Hände, feuchte die Haare an und

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