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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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trinke gierig ein paar Schlucke. Dann denke ich an den Mann, der verbrannt in der Asche liegt. Da ich kein Gefäß habe, trage ich das Wasser in meinen Händen zu ihm hinüber und halte sie an seine Lippen. Mehr als ein paar Tropfen kriege ich nicht transportiert.
    »Lass mich hier liegen und geh«, sagt er.
    »Wohin?«, frage ich.
    »Kannst du wirklich nicht mehr zu deiner Mutter zurück?«
    »Denken Sie, ich wäre hier, wenn ich das könnte?«
    »In der Stadt werden die Medien deine Hinrichtung feiern«, bringt der Mann mühsam hervor. »Halte dich im Verborgenen.« Das Gespräch scheint ihm die letzte Kraft geraubt zu haben. Jetzt ist er still.
    »Kann ich Sie auch was fragen?« Ich sitze seit geschätzten drei Stunden an seiner Seite, aber er hält seine Augen geschlossen und hat wahrscheinlich von meiner Anwesenheit gar nichts mitgekriegt.
    »Ja«, sagt er zu meiner Überraschung. »Noch geht das.«
    »War ich die Einzige im Dementio? Ich meine, der einzige Häftling?«
    Dass er nicht antwortet, halte ich für eine Bestätigung.
    »Ganz schön viel Aufwand«, sage ich. »Eine ganze Anstalt für eine Sechzehnjährige? All die hoch qualifizierten Experten?«
    »Keine gewöhnliche Sechzehnjährige«, sagt er.
    »Meine Großmutter ist vor über fünfzig Jahren auch schon da gewesen«, sage ich. »Und sie ist normal. Hundertprozentig.«
    Jetzt öffnet er mühsam ein Auge.
    »Sie kann es dir nicht erzählt haben«, sagt er. »Alle Insassen von damals nehmen Medikamente gegen Erinnerungen. Oder hält sie sich nicht mehr daran?«
    »Keine Ahnung«, sage ich. »Sie war zuletzt nicht gerade sehr gut drauf.«
    »Das ist ein Problem der ganzen Generation«, murmelt er. »Niemand ist davon ausgegangen, dass die ersten Normalen, die damals gerade erwachsen wurden und die Basis der Gesellschaft geformt haben, so alt werden. Man hat keine Langzeiterfahrung mit den Pillen. Jetzt scheinen die offenbar nicht mehr zu wirken und reihenweise stürzen die Leute in Depressionen.«
    »Das habe ich alles nicht gewusst«, flüstere ich und habe Kojotes Stimme im Ohr.
    Was hast du überhaupt schon mal gewusst. Haben andere besser aufgepasst? Waren sie neugieriger gewesen? Kojote wusste sicher mehr. Wo mochte er jetzt wohl stecken?
    Ich sehe den Mann an. »War ich besonders dumm, besonders blind, dass ich keine Ahnung hatte, in welcher Welt ich lebe?«
    Er antwortet nicht, entweder aus Erschöpfung oder aus Höflichkeit.
    »War überhaupt schon einmal eine richtige Phee im Dementio? Oder mussten immer Unschuldige herhalten, die irgendjemandem seltsam vorkamen?«
    Jetzt dauert es sehr lange, bis er wieder antwortet. Ich halte meinen Finger an seine Lippen, um zu überprüfen, ob er überhaupt noch atmet. Dabei weiß ich ausnahmsweise die Antwort auf diese Frage. Aber ich will sie von ihm hören.
    »Eine gab es«, sagt er schließlich, als ich schon fast nicht mehr damit rechne.
    »Man erzählt, sie hat dort ein Kind bekommen«, werfe ich ein.
    Sein Kinn beginnt, merkwürdig zu zittern.
    »Ein kleines Kind, das mit Verbänden herumlief. Es wurde, wie man sagt, verunstaltet geboren und musste operiert werden.«
    »Ja«, flüstert er wieder. »Es lief durch die Gänge und rief nach seiner Mutter.«
    »Woher wissen Sie das? Haben Sie da auch schon im Dementio gearbeitet?«
    Er dreht das Gesicht mühsam von mir weg. Ich richte mich auf und sehe, wie sich eine Träne einen Weg durch die schwarze Schicht bahnt, die sein Gesicht bedeckt.
    »Geh weg«, sagt er. »Versuche irgendwie, in den Wald zu kommen.«
    »Aber die Quadren sind verschwunden. Das habe ich Ihnen doch erzählt.«
    »Vergiss die Quadren. Der Wald ist inzwischen überall. Er bedrängt die Stadt. Geh hin, geh zu deiner Mutter.«
    Ich richte mich auf. »Ich kann versuchen, etwas für Sie aufzutreiben. Medikamente. Ich kann versuchen, Hilfe zu holen.«
    »Wo?«, fragt er verwirrt.
    »Irgendwo da draußen, in der Stadt eben.«
    »Ach so«, sagt er. »Ich fürchte, von der Stadt ist bald auch nicht mehr viel übrig. Aber geh trotzdem. Geh einfach los.«
    Als ich sehe, dass er dabei lächelt, empfinde ich widerwillig so etwas wie Respekt für ihn. Für meinen eigenen Henker.
    Ich habe die Entfernung unterschätzt. Das Stadion erstreckt sich endlos. Meine Schritte sind im Vergleich dazu sehr klein, ich bewege meine Füße, habe aber das Gefühl, nicht voranzukommen. Irgendwann, als ich schon Muskelkater in meinen vom Gehen entwöhnten Beinen habe, habe ich endlich geschafft rauszukommen.

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