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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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dir bleibt uns leider nichts anderes übrig.«
    »Was meinen Sie?«, frage ich mit trockenen Lippen, obwohl ich die Antwort weiß.
    »Wir müssen die Verdächtige töten. Wenn es uns gelingt, kann sie rehabilitiert werden. Denn eine Phee ist unsterblich.«
    Als ich die Bedeutung dieser Worte begreife, geht bei mir das Licht aus. Das registriere ich, während ich langsam zur Seite falle. Wie ich auf dem Boden lande, kriege ich nicht mehr mit.
    »Nein«, schreie ich, als das Kind die Hände nach meinen Haarsträhnen ausstreckt. »Geh weg von mir. Ich weiß nicht, was du bist, ein Hausgespenst oder mein Hirngespinst, aber ich hab genug von diesen Spaziergängen. Ich bleibe in meiner Zelle und du geh zu deiner Mama.«
    »Mama«, wiederholt das Kind. Es lacht, zeigt seine vier Zähne, zwei oben und zwei unten.
    »Wo ist sie, deine Mama? Soll ich dich zu ihr bringen?«
    »Mama«, nickt es eifrig.
    »Okay, aber lauf nie wieder weg«, sage ich.
    Es gibt mir bereitwillig die Hand. Ich nehme sie. So vertraut sind wir schon miteinander. Was nicht heißt, dass ich das Balg neuerdings leiden kann.
    Ich weiß nicht, wie es das Stöhnen und Sterben in den Zellen des alten Dementio so gut aushält. Ich fühle mich jedes Mal so, als würde mir eine eiserne Hand die Eingeweide umdrehen. Selbst als ich einmal zusehen kann, wie die Frau mit dem Gesicht der jungen Ingrid wieder gehen darf, spüre ich keinen Triumph. Sie wird von zwei Wachen unsanft in die Seite gestoßen und wach gerüttelt. Sie ist völlig orientierungslos und sperrt sich, versucht zu schreien, als sie sie herausbringen wollen. Niemand verlässt das Dementio lebend – das ist, wie ich gerade sehe, auch eine Lüge. Ich spüre wieder Hoffnung aufflammen. Vielleicht gelingt es ja auch mir, hier rauszukommen.
    Andere Frauen bleiben in den Zellen liegen, bis sie in schwarze Säcke gepackt und abtransportiert werden.
    Plötzlich habe ich eine furchtbare Idee. »Mama?«, frage ich und deute auf einen der Säcke. Das Kind schüttelt heftig den Kopf. Es hat sich mal wieder in der Zeit verirrt – und ich fluche innerlich darüber, einen Reiseführer zu haben, der selber völlig orientierungslos ist.
    Allmählich kann aber auch ich selbst die Zeiten ein wenig voneinander unterscheiden. Ich sehe Putzkolonnen, die Zellen schrubben und mit Desinfektionsmitteln einsprühen. Die Flecken lassen sich nicht wegwischen, aber übertünchen. Die Gitter werden lackiert. Ich habe die Anstalt nie wieder so voll gesehen wie in der Zeit, in der ich glaube, Ingrid wiedererkannt zu haben.
    »Wo ist jetzt deine Mama?«, frage ich.
    Das Kind zeigt lächelnd seine vier Zähne.
    »Und wo sind die Pheen?«, frage ich. Die Pheen, für die das Dementio angeblich gebaut wurde.
    »Fe nicht hier«, sagt das Kind traurig.
    Ich wache in meiner Zelle auf, geblendet, verfroren, zusammengesunken auf dem Boden. Ich merke sofort, dass er da ist. Er steht am Gitter, atmet ganz flach und schaut mich an. Als ich mich vorsichtig bewege, atmet er laut aus.
    »Hast du gedacht, dass ich schon tot bin?«, frage ich, meine Kehle ist schon wieder ganz trocken und die Stimme heiser.
    Er hält die Luft an. Sein Herz rast wieder ein paar Takte pro Minute schneller.
    »Ich weiß, dass du hier bist«, sage ich. »Ich kann dich hören und riechen.« Am Reibungsgeräusch seiner Kleidung und daran, wie er die Luft einzieht, erkenne ich, dass er jetzt wahrscheinlich stirnrunzelnd an seinem Ärmel riecht.
    Ich drehe das Gesicht in seine Richtung und lächele. Ich weiß, dass er allein ist. Ich kann niemanden sonst riechen oder hören. Und ich bin sicher, dass wir nicht beobachtet werden, dass keine Kamera mich permanent überwacht, dass sich unter dem Schmierfilm keine Mikrofone verstecken. Sonst wäre er jetzt nicht hier. Er kennt das Risiko. Er ist vorsichtig und trotzdem kommt er zu mir.
    »Ich rieche sogar die Tränen in deinen Augen«, sage ich.
    Das Gitter zittert. Er lehnt sich mit seinem Körper an, drückt die Stirn dagegen. Seine Finger umklammern die Stäbe, der Schweiß befeuchtet das Metall.
    »Wie geht’s Ksü?«, frage ich.
    »Ich habe sie verloren«, sagt er. Es ist der erste Satz, den ich in diesen Mauern von ihm höre.
    »Wie meinst du das?«, frage ich. »Ist sie…?«
    »Als ihr weg wart und sie aufwachte, war sie außer sich«, sagt er. »Ich habe keine andere Chance gesehen, als sie im Zimmer einzusperren und mit Medikamenten ruhigzustellen. Sie liegt im Bett und schläft. Das wird der Inspiro nicht lange mit

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