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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Ein bisschen bemitleide ich sie auch, dass sie mit etwas Übergroßem gerechnet und statt dessen mit mir zu tun haben. Mal siezen, mal duzen sie mich, und vor allem versuchen sie, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
    Als sie mich fragen, was sie für mich tun können, weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich denke an Ksü, aber was könnte es geben, womit ich ihr wohl helfen könnte? Sicher nicht irgendwelche Medikamente. Ich nehme mir wieder vor, so schnell wie möglich von hier wegzukommen und zu Ksü zu gehen. Nach allem, was ich hinter mir habe, kann es doch wirklich nicht so schwer sein, an ein paar Freaks mit beängstigend aussehenden Dosen am Gürtel vorbeizukommen.
    Was hat mich der Langhaarige da gerade gefragt? Ob ich mich an meinen Tod erinnere. Er hat extra höflich den Moment abgewartet, in dem ich den einen Bissen fertig gekaut, mir aber noch keinen weiteren in den Mund geschoben habe.
    Ich sehe zur Decke. Dann schüttel ich den Kopf.
    »Ich kann mich an nichts erinnern«, sage ich. Sie sind natürlich enttäuscht. Vielleicht sollte ich ihnen eine großartige Geschichte auftischen. Die ich allerdings vorher hätte vorbereiten sollen, denn im Improvisieren war ich noch nie gut gewesen.
    »Ich kann mich nicht erinnern, tot gewesen zu sein«, sage ich.
    Ich sehe in drei aufmerksame Augenpaare. Jetzt habe ich nun doch ganz aus Versehen etwas Interessantes gesagt.
    »Ich glaube nicht an den Tod«, sage ich. »Er bedeutet ja nur, dass jemand auf herkömmlichem Wege unerreichbar geworden ist. Das sagt überhaupt nichts darüber aus, wo er gerade steckt und wie es ihm in diesem Moment geht. Unsere Trauer darüber kommt aus unserer eigenen Bequemlichkeit. Wir haben keine Lust, uns umzustellen.«
    Sie hören auf zu kauen.
    »Wie ist Ihre Verbindung zu dem Wald?«, fragt einer von ihnen leise. »Es ist uns allen hier in der Stadt nicht entgangen, dass der Wald auf Ihr Schicksal immer sehr präzise reagiert hat.«
    »Na ja«, sage ich. »Der Wald, das bin eben ich.«
    Ich staune selber darüber, welchen Mist ich da gerade zusammenrede. Und dass es offenbar gerade das Richtige zu sein scheint.
    »Wir sind das Gleiche in unterschiedlicher Form«, füge ich erklärend hinzu.
    Sie nicken, als ob es irgendeinen Sinn machen würde.
    »Haben Sie denn einmal daran gedacht, was wäre, wenn Sie Ihre Flügel immer noch hätten?«
    »Meine was?« Leider habe ich jetzt den Mund voll mit Braten. Nun verschlucke ich mich auch noch. Gott, stelle ich mich peinlich an. Ich greife zu einem Glas mit Wasser, das neben meinem Teller auf dem weißen gestärkten Tischtuch steht.
    »Ach so«, sage ich. »Ja, wenn ich die noch hätte, dann wäre das alles nicht passiert. Dann hätte ich längst davonfliegen können. So war ich aber gezwungen hierzubleiben. Das haben jetzt alle davon.«
    Sie nicken und sehen mich aus geweiteten Augen an. Ich schneide mir vorsichtig noch ein wenig Braten ab und tunke das Stück in die duftende, aromatische Quittensoße.
    Nach dem Essen erkläre ich mich für übermüdet und äußere den Wunsch, mich zurückzuziehen. Dafür haben alle sehr viel Verständnis. Ein paar Mal hatten sie mich zu Gesprächen gerufen, aber dann offenbar festgestellt, dass es nicht viel bringt. Sie haben mir Stadtpläne gezeigt, die mit Kreuzen und »J« markiert waren. Die Normalenviertel waren von vielen Pfeilen durchkreuzt.
    »Ich verstehe nichts vom Krieg«, habe ich gesagt und sie haben mich seufzend gehen lassen. Es ist praktisch, für eine Phee gehalten zu werden, der alles um sie herum gleichgültig ist.
    Wenn ich bloß eine wäre.
    Mein Zimmer ist wahrscheinlich das beste Zimmer des Hauses, vermutlich das Schlafzimmer des früheren Besitzers, das in seinem ganzen Prunk unverändert geblieben ist. Extra so beibehalten für so wichtige Gäste wie mich, denke ich gereizt, als ich mich aufs Bett werfe, über dem ein mit Blumen verzierter Himmel flattert. Als Erstes überprüfe ich, ob das ergatterte Päckchen mit den Medikamenten noch da ist. Alles in Ordnung. Ich könnte abhauen. Wenn ich könnte.
    Ich quäle mich aus den weichen Daunen und gehe ans Fenster. Ich bin immerhin im zweiten Stock, doch die Decken sind hier so hoch, dass es sich wie fünfter anfühlt.
    Ich öffne die Zimmertür und schaue hinaus in den Flur. Zum Glück kommt hier selten jemand vorbei. Ich habe angedeutet, dass ich nach dem Schock der Auferstehung meine Ruhe brauche. All diesen Leuten zu begegnen, versetzt mich meist in eine Art Stupor. Ich weiß

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