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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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umklammert. Ich werfe einen Blick aufs Titelblatt.
    Es sind die gesammelten urbanen Horrorgeschichten über Pheen. Sie erinnern mich an meine Nächte im Rudel, an die Geschichten, die durch die Luft wehten.
    Gleich zweimal Kojote. Zwei Stiche ins Herz. War er beim Stadion gewesen? Warum hat er das Armband weggeworfen?
    Ich brauche Zeit, bis ich mein Gesicht derart unter Kontrolle habe, dass ich zum Essen in den Salon runtergehen kann.

Alte Bekannte
    Diesmal speise ich in Gesellschaft von vier Freaks und der vierte lässt mich zum ersten Mal lächeln. Ich erkenne ihn sofort – es kommt mir so vor, als ob er sich in der Zeit, in der alles anders geworden ist als früher, am wenigsten verändert hat. Er ist seinem Irokesenschnitt und dem grünen Bart treu geblieben, selbst an die Brille mit den runden gelb getönten Gläsern erinnere ich mich sofort. Ich denke daran, wie er Tränen in den Augen hatte, als ich in seinem Büro war und er von meiner Mutter und anderen Pheen gesprochen hatte.
    »Professor Melchior«, stammele ich, während er von seinem Sitz aufspringt, um mich zu begrüßen.
    Ihn jetzt hier zu sehen, ist nicht nur eine Freude, sondern auch ein Schock. Seine Anwesenheit katapultiert mich in eine Zeit, in der ich zum ersten Mal versucht hatte, das Verhältnis von Freaks und Normalen zu durchschauen, und sogar mich bemühte, eine eigene Meinung zu bilden. Schon damals hatte sich der zur Rührseligkeit neigende Zwerg, anders als Ksü und Ivan, eindeutig positioniert.
    Trotzdem hatte ich ihn in meinem Kopf als einen der besseren Freaks einsortiert – denn die gute Nachricht für mich war, dass es überhaupt bessere von ihnen gab. Ihn an der festlich gedeckten Tafel in einem geplünderten Haus zu sehen, aus dem eine Familie mit mehreren kleinen Kindern bestenfalls vertrieben, schlimmstenfalls gemeuchelt wurde, passt nicht zu dem, was ich gern von ihm halten würde.
    Deswegen lasse ich schnell von ihm ab und setze mich als Erste hin, auch wenn es nicht sehr höflich ist.
    Und bevor er den ersten Satz ausspricht, weiß ich schon, dass er sich sehr wohl verändert hat. Oder vielleicht war er immer so – bloß zeigt er jetzt eine andere Seite von sich.
    »Was erstaunt Sie so, Juliane?« Ich habe keinen sentimentalen Professor mehr vor mir, der Tee im Puppengeschirr serviert, sondern einen entschlossenen Mann, dessen Stimme trocken und hart klingt. Er wird mich nicht mehr »mein liebes Kind« nennen. Er weiß genau, was er hier tut und warum, und das geschieht nicht aus Nettigkeit.
    Aber er scheint auch zu begreifen, warum ich so irritiert dreinschaue.
    »Wir müssen Ihnen wie eine marodierende Räuberbande vorkommen«, sagt er.
    Nun, genauso ist es. Ich senke den Blick auf meinen Teller. Ein Klecks Spargelrisotto als Vorspeise. Wo haben sie in diesen Tagen Spargel aufgetrieben? Leider habe ich schon wieder schrecklichen Hunger.
    »Es tut mir leid«, sage ich. »Ich muss bloß immerzu an die Kinder denken, die in diesem Haus gelebt haben. Sie waren noch jünger als meine Geschwister. Ich hatte einen Schnuller in meinem Zimmer gefunden.«
    »Ich kann Ihnen versichern, Juliane, dass wir keine Kinder ermorden«, sagt Professor Melchior und sieht mich freundlich über seinen Brillenrand hinweg an.
    »Das ist sicher sehr nett von Ihnen. Aber was ist mit ihren Eltern? Wo sind sie jetzt?«
    »Die Kinder sind bei uns«, mischt sich der Gestreifte ins Gespräch ein. »Wir werden niemanden, der unter zwölf ist, im Stich lassen. Wir werden ihnen ein neues Zuhause geben.«
    Unter zwölf, denke ich. Ich wäre also längst zum Abschuss freigegeben. Allerdings auch bei den Normalen – meine Hinrichtung war der beste Beweis, dass die Volljährigkeit mit einundzwanzig nicht für schlimme Verbrecherinnen gilt. Na sei es drum, ich bin ja auch kein Kind mehr.
    »Sie haben so eine Art Waisenhaus für normale Kinder?«, frage ich weiter.
    »Den Ausdruck normal wird es nicht mehr geben«, sagt Professor Melchior. »Das wird ein Unwort sein, das für längst vergangene, grausame Zeiten steht. Die Kinder werden zusammen mit anderen Waisen zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen.«
    »Das kommt mir schrecklich bekannt vor«, sage ich. »Ich hatte es die ganze Zeit so verstanden, dass die Freaks gegen jede Gesellschaftsordnung sind .« Sie haben doch die Normalität mit allen Mitteln bekämpft. Überall unterwandert. Wieder habe ich die Stimme meines Vaters im Ohr.
    »Wir haben keine Gesellschaft bekämpft, sondern den Terror

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