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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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offensichtlich, anderes weniger. Das mir bislang unbekannte Villenviertel ist seltsam leer. Mein Blick bleibt an einem ausgebrannten Abfallkorb haften. Daraus drängen grüne Triebe. Gänsehaut kriecht meine Oberarme hoch.
    Ich schaue die eingeworfenen Fenster an. Als ich an einer Mauer die gesprühten Worte »Nieder mit den Normalenschweinen!« lese, nehme ich mir das Armband ab und schließe es um mein Fußgelenk. Ich höre es bei jedem Schritt leise rasseln, aber es kommt mir ohrenbetäubend vor.
    Ich bleibe an einem kleinen Laden stehen, der, wie mir langsam dämmert, geplündert worden ist. Es ist keines von den Geschäften, wie ich sie aus unserem Viertel kenne – große Hypermärkte mit endlosen Regalen, die alles haben von der besten Vitaminmischung gegen schiefe Zähne bis zum Nagellack, der seine Farbe nach Wochentag wechselte.
    Auf der Theke steht eine umgeworfene alte Kasse. Die Regale sind leer geräumt. Fetzen zerrissener Packungen liegen herum. Als ich über sie laufe, knistern sie. Ich schaue drunter, entdecke einige getrocknete Erbsen. Und weiter in die Ecke gerollt, entdecke ich einen richtigen Schatz: ein altes braunes Brötchen.
    Ich hebe es auf und versuche abzubeißen. Es ist steinhart, ich habe Mühe, meinen Mund so weit aufzumachen. Ich schaffe es, ein Stück abzunagen. In meinem Mund wird es langsam weicher. Ich schließe die Augen.
    Geht es jetzt vielen so wie mir? Müssen die verwöhnten Kinder der Normalität, die sich zu fein waren, ihre angebissenen Sandwiches für später aufzubewahren, bald in den Mülleimern nach Essen suchen, so wie ich vor Kurzem auch?
    Ich sehe das Gesicht meiner Mutter vor mir. Als sie verschwunden war, hatte ich mich wie ein Kleinkind gefühlt, das keinen Schritt ohne seine Mama tun konnte. Als ich sie wiedergefunden hatte, haben wir, wie mir im Rückblick vorkommt, eigentlich nur gestritten. Und in der schwersten Zeit, die ich hinter mir habe, hatte ich sie komischerweise ziemlich aus meinen Gedanken verdrängt.
    Ich beschließe, es für ein Zeichen des Älterwerdens zu halten.
    Die Gruppe umkreist mich und ich bleibe stehen. Ich sehe in ihre geweiteten Augen, registriere die Freakfrisuren. Manche Gesichter kommen mir dunkel bekannt vor. Der Ring schließt sich, sie nähern sich mir langsam, ich warte. Ich habe keine Angst, obwohl meine Haare sie sicher nicht überzeugen. Wahrscheinlich versuchen jetzt viele Normale, sich auf diese Art zu tarnen.
    Einer von ihnen streckt die Hand aus, um meinen Ärmel hochzuziehen. Ich unterdrücke den Impuls, ihm mit der Faust der anderen Hand ins Gesicht zu schlagen.
    »Da ist der Streifen«, sagt einer von ihnen grinsend.
    Ich werfe den Kopf zurück, schiebe mir die Haare aus dem Gesicht.
    »Erkennt ihr mich nicht wieder?«
    Sie stutzen. Sie erkennen mich nicht wieder, aber mein Tonfall scheint sie überzeugt zu haben, dass sie es müssten. Ich spüre ihre forschenden, verunsicherten Blicke. Dann sehen sie sich an. Einige zucken mit den Schultern.
    »Schaut genau hin«, sage ich.
    Ich habe vergessen, dass ich die Zeitung noch habe. Ich entfalte sie und halte sie hoch. Ihre Blicke fallen darauf und plötzlich ändert sich alles, weil sie mich in der Tat erkennen.
    Einer kapiert es als Erster. Er steht ziemlich weit weg, aber ich habe ihn im Blick, ich sehe ihn blasser werden, beobachte, wie er die Hand gegen den Mund presst. Die anderen schauen ihn an, er schreckt zurück, wendet sich ab, als ob ihm schlecht wäre, sieht wieder zweifelnd in meine Richtung.
    »Das ist sie«, bringt er hervor. »Die Phee, die hingerichtet wurde.«
    Die anderen begreifen langsam. Ich lese ihre Gesichter wie Bücher, verfolge fasziniert das wechselhafte Gefühlsspiel aus Angst, Ehrfurcht, Panik und Bewunderung. Ein bisschen schäme ich mich dafür, dass ich es so leicht habe, sie um den Finger zu wickeln.
    Einer von ihnen tritt hervor. Der Ring hat sich gelockert, sie haben es eilig, den Abstand zwischen ihnen und mir zu vergrößern. Ich bin das Mädchen, hinter dessen Rücken der Wald steht. Mit dem Wald ist nicht zu spaßen. Sie haben Angst vor mir.
    Ich spüre den bitteren Geschmack des Ekels in meinem Mund.
    »Beweise es«, stottert derjenige, der sich einen Schritt weiter traut als die anderen.
    Ich hebe das Kinn. Ich darf mir nicht anmerken lassen, dass ich jetzt ein wenig verunsichert bin. Wie soll ich beweisen, dass ich ich bin? Reicht mein Gesicht nicht?
    »Juli Rettemi hat Narben auf dem Rücken«, stammelt der Mutige.
    Ich bin

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