Spiegelriss
endlose Bandwurmsätze, die Begriffe verwenden, die ich noch nie im Leben gehört habe. Aber ich bleibe dran. So erfahre ich, dass Pheen drei Lungen haben und kein Herz. Dass sie wie Katzen bei Nacht sehen können, weswegen ihre Augen leuchten. Dass sie, wenn sie unbeobachtet sind, fliegen können. Ihr Gehirn besteht aus winzigen kleinen Würmern. Sie essen ausschließlich rohes Fleisch, manchmal auch Zweige penibel aufgezählter Bäume. Ihr Favorit dabei ist Menschenfleisch, insbesondere das kleinerer Kinder. Lieblingsgetränk: Blut. Im Abschnitt Physiologie gibt es Tabellen und Diagramme, die den Stoffwechsel unter besonderer Berücksichtigung des Bluttrinkens auseinandernehmen.
Ich würde gern lachen können. Aber ich ertappe mich dabei, dass ich mich beim Lesen frage, ob meine Mutter einen Herzschlag gehabt hat.
Natürlich hat sie.
Ich bin erleichtert, als ich mir das in aller Klarheit in Erinnerung rufe. Und schäme mich für mich selber. Das Buch hat so seriös gewirkt, dass ich ihm glauben wollte. Sogar ich. Wie muss es den anderen ergangen sein?
Ich schlage die erste Seite auf und lese: »Dies ist ein Standardwerk für Studenten höherer Schulen.«
Ich denke sofort an Ivan. Das hat er studiert. Und ich habe mich noch gewundert, warum er mich immer so angeschaut hat. Ich muss vermutlich dankbar sein, dass er mir kein Blut zu trinken angeboten hat.
Ich überlege, ob ich das Buch zerreißen soll. Dann fällt mir ein, dass es mir gar nicht gehört. Ich lege es auf den Boden, schiebe es mit dem Fuß möglichst weit weg.
Ich habe keine Lust weiterzulesen. Übelkeit steigt meine Kehle hoch. Und auf einmal bedauere ich es, nicht wirklich tot zu sein. Ich habe keine Lust, in einer Welt zu leben, in der solche Bücher gelesen werden.
Ich lehne mich gegen das Regal und schließe die Augen. Ich will nicht mehr, denke ich. Und beneide Ksü plötzlich darum, dass sie sich gerade verwandelt. Ich will auch anders werden. Aber mein Körper ist eine träge Hülle, die nicht mitkommt bei den Veränderungen, die gerade mein Inneres sprengen.
Ich bin so vertieft in den Versuch, mir selber nachzuspüren, dass ich nicht höre, wie noch jemand das Zimmer betritt. Ich drehe mich um und bringe einige Bücher zum Umfallen, als ich ein vorsichtiges Hüsteln höre. Es ist der Rot-Weiß-Gestreifte, der, obwohl größer als ich, es irgendwie schafft, mich von schräg unten anzuschauen.
»Ja?«, frage ich heiser. Meine Hand klammert sich automatisch an eine der Broschüren, die aus dem Regal herausgefallen sind.
Er verbeugt sich und sagt, dass man sich freuen würde, mich beim Abendessen sehen zu können.
Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Offenbar habe ich stundenlang gelesen, draußen ist es bereits dunkel. Ich verstecke das Heftchen hinter meinem Rücken, er tut so, als würde er das nicht merken.
»Ich komme nach«, sage ich. Er nickt und entfernt sich im Rückwärtsgang, wie ein Krebs.
»Warten Sie bitte«, sage ich.
Er hält inne und sieht mich fragend an.
»Haben Sie zufällig einen ID-Scanner?«
Er schweigt so lange, dass ich meine Frage bereue. Aber dann greift er unter sein Hemd und holt das Gerät hervor.
Ich bücke mich und löse das Band, das ich um mein Fußgelenk geschlungen hatte.
»Hab ich auf der Flucht gefunden«, sage ich, während ich ihm den silbrigen Streifen reiche.
Er nimmt es in die Hände, als hätte er Angst, von dem Armband gestochen zu werden. Der Scanner piepst. Er zeigt mir das Display.
Konstantin Josephson, normal, 17 Jahre alt, 179 groß, Augenfarbe Blau, Haarfarbe Hellbraun, verwaist, keine Erbkrankheiten, zwei Verwarnungen wegen Zuwiderhandlung gegen das Gesetz, wohnhaft, chronologisch geordnet, in der Henry-Aneko-Straße…«
»Kennen Sie ihn?«, frage ich den Rot-Weiß-Gestreiften.
Er schüttelt den Kopf.
»Konstantin Josephson«, murmele ich und ich weiß es merkwürdigerweise gleich. Vielleicht liegt es an dem Straßennamen, der Henry-Aneko-Straße, die sich in mein Gedächtnis eingegraben hat.
Konstantin Josephson. Ich war an seinem Haus gewesen und habe mit ihm zusammen über den Zaun geguckt. Dort hat er mich dazu gebracht, Ksü und Ivan aufzusuchen.
Das Armband stammt von Kojote.
Der Rot-Weiß-Gestreifte sieht mich immer noch unterwürfig an. »Ich komme nach«, wiederhole ich mit Nachdruck.
Jetzt kann es ihm nicht schnell genug gehen, aus dem Raum zu verschwinden.
Ich drücke das Armband in der Hand zusammen. In der anderen halte ich immer noch das Heft
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