Spiegelriss
nicht, was ich ihnen sagen soll. Sie wiederum reagieren auf meine Begrüßung, als wäre ich ein sprechendes Pferd. Und vielleicht ist das auch genau meine Rolle hier.
Ich bewege mich durch den Flur, versuche leise, die anderen Zimmer zu öffnen. Die meisten Türen sind geschlossen. Eine gibt nach und dann stehe ich zwischen lauter Bücherregalen. Eine kleine Bibliothek. Mein Herz macht einen Sprung. Ich denke, dass ich keine andere Gelegenheit haben werde, etwas über die früheren Bewohner des Hauses zu erfahren.
Die Bücher sind sortiert – die Ratgeber zur gesunden Ernährung füllen ein ganzes Regal, ebenso dicke Wälzer und dünne Broschüren zum Staatsprinzip der Normalität. Dann entdecke ich eine ganze Reihe Katastrophenromane, wie ich sie von Kindesbeinen an auf dem Nachttisch meines Vaters gesehen habe. Einen ziehe ich heraus, sehe auf dem Umschlag einen Freak mit wahnsinnigen Augen, der einem gut aussehenden Normalen, zu erkennen an Haarschnitt, Anzug und Krawatte, schon zur Hälfte die Kehle durchgeschnitten hat. Angesichts der aktuellen Situation weiß ich nicht, ob ich über die prophetische Gabe des Zeichners lachen oder weinen soll. Ich stelle das Buch zurück ins Regal.
Und dann drehe ich mich zum benachbarten Regal und das Lachen bleibt mir im Halse stecken.
Gesammelte Horrorgeschichten
Es sind dicke, alte Wälzer dabei, Hochglanzbroschüren, schlicht aufgemachte Fachliteratur und bunte Bilderbücher. Allen ist gemeinsam, dass das Wort Phee in der Überschrift auftaucht. Das, wonach ich die ganze Zeit gesucht habe. Eine Auswahl des gesammelten Wissens über Pheen.
Oder auch des Unwissens.
Einige dieser Bücher hätte ich sicher als Kind kennengelernt, wenn ich in einer richtigen normalen Familie geboren worden wäre. Bücher, die normale Kinder vor dem Einschlafen vorgelesen bekamen, womit sichergestellt wurde, dass ihre Albträume sich um Pheen drehen und um nichts anderes.
Ich öffne das erste Kinderbuch, es hat große, farbige Bilder, die ein normales blondes Kind mit geradem Scheitel zeigen, das auf seine Mutter nicht hört und ein Gespräch mit einer hässlichen, alten Frau beginnt, die ihm am Zaun des gepflegten Vorgartens aufgelauert hat. Sie zeigt ihm Bonbons und versucht, es zu locken, mit ihr zu kommen. Das Kind, die Warnungen der Mutter im Hinterkopf, ist erst noch zaghaft. Die hässliche alte Frau wedelt mit einem bunten Ball und streichelt sich dabei verstohlen den Bauch: Sie hat schrecklichen Hunger, sie wird das Kind jetzt fressen. Als das Kind dabei ist, über den Zaun zu ihr zu klettern, sieht es die Mutter aus dem Küchenfenster. Sie läuft heraus und beginnt, an dem Kind zu zerren, das schon halb im Mund der Frau verschwindet, das plötzlich zu einem gierigen Maul mit riesigen Zähnen geworden ist. Die Mutter schafft es, ein ziemlich zerrupftes und an einigen Stellen sogar blutendes Kind aus diesen Zähnen herauszuziehen. Die schreckliche alte Frau tobt. Ein mintgrüner Polizeiwagen taucht auf, Experten in Uniform schleppen sie ab, während sie wütend um sich schlägt. Ihre Finger sind zu langen Krallen geworden, damit zerfetzt sie alles um sich herum.
Der Polizeiwagen fährt ab. Mutter und Kind stehen eng umschlungen da.
Das Kind wird nie wieder mit einer Phee sprechen.
Ich habe eine Gänsehaut, während ich mir diese Bilder anschaue. Mama, denke ich. Wie kannst du gedacht haben, dass jemand wie du in einer solchen Umgebung überleben kann. Sogar eine Familie gründen.
Ich hole aus und werfe das Bilderbuch in einem Anfall von Wut quer durch den Raum. Meine ganze Kindheit lang hatte ich nur mit Gleichaltrigen zu tun gehabt, die mit solcher Lektüre aufgewachsen waren. Da ist es höchstens erstaunlich, dass wir uns trotzdem recht gut vertragen haben.
Wie kann es aber sein, dass Dr. Rudolf Rettemi eine dieser Pheen geheiratet hat, zudem eine mit einem kleinen verstümmelten Kind am Bein? War sein Wunsch zu leben größer als der in der Kindheit antrainierte Ekel? Oder hatte er sich wirklich verliebt? Ich fürchte, ich werde es nie erfahren.
Das nächste Buch, das ich mit zusammengebissenen Zähnen aus dem Regal ziehe, hat viele Seiten, Text ohne Ende und schwarz-weiße Zeichnungen, unterteilt in Abschnitte – Anatomie, Physiologie, Psychologie. Ich blättere mich durch Skizzen quer und längs durchgeschnittener Pheenkörper. Pfeile führen zu den inneren Organen, beschriftet mit winzigen kursiven Buchstaben.
Ich beginne, mich durch den Text zu quälen. Es sind
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