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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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erstaunt und peinlich berührt. Stand es auch in der Zeitung? Seit wann sind die Narben auf meinem Rücken Bestandteil des öffentlichen Interesses? Ich habe niemandem davon erzählt. Sofort melden sie sich mit Jucken. Am liebsten würde ich jetzt draufloskratzen.
    »Ihr wollt meine Narben sehen?«, frage ich.
    Den anderen merke ich an, dass sie eigentlich gar nichts sehen wollen. Am liebsten würden sie wegrennen. Ihr heiliges Entsetzen geht mir langsam auf die Nerven. Aber dieser eine, der Mutige, vor dem ich nun doch eine Spur Respekt empfinde, der ist noch nicht restlos überzeugt. Und wenn ich mir jetzt anmerken lasse, dass ich verunsichert bin, könnte ich meine einzige Chance verspielen.
    »Na gut«, sage ich langsam. »Ich zeige sie euch.«
    Erstaunt stelle ich fest, dass fast alle sofort die Augen zukneifen, als hätten sie Angst, geblendet zu werden. Fast rutscht mir die Bemerkung aus, sie bräuchten sich nicht so anzustellen, so schlimm sähen meine Narben doch gar nicht aus. Aber außer dem einen Mutigen sind es noch zwei oder drei, die jetzt aufmerksam auf meine Bewegungen lauern.
    Ich drehe ihnen den Rücken zu, ziehe den Pullover aus. Dann greife ich mit dem linken Arm über meine rechte Schulter und streife das Nachthemd bis zum Schulterblatt herunter.
    Kann man die Narben aus der Entfernung überhaupt erkennen?
    Ich höre, dass sich jemand hinter meinem Rücken bewegt. Offenbar kann man die Narben dann doch nicht von Weitem sehen. Ich spüre einige ganz dicht hinter mir, ihre staunenden Blicke und den heißen Atem. Und als ich beschließe, dass die Show vorbei ist, spüre ich, dass fremde Finger die Stellen berühren, die sofort zu jucken anfangen.
    Ich drehe mich um und schlage mit der Faust in ein Gesicht, noch bevor ich sehen kann, zu wem es eigentlich gehört. Es ist nicht der Skeptiker, der die Narben als Erster sehen wollte. Es ist jemand, der mir bekannt vorkommt. Wahrscheinlich aus dem Rudel.
    Warum schreit er jetzt wie am Spieß? Habe ich ihn so heftig getroffen? Ich bin keine Faustkämpferin, wenn, dann kann es höchstens aus Versehen gewesen sein. Als ich dabei bin, eine Entschuldigung zu stammeln, merke ich, dass er sich nicht wie jemand verhält, dem irgendwas am Kopf wehtut. Er wedelt mit seiner Hand, die sich zischend schwarz verfärbt. Eine winzige Rauchsäule steigt auf und es riecht nach verbranntem Fleisch.
    Der Unglücksrabe drückt seine Hand an seine Brust, bedeckt sie mit der gesunden und wankt rhythmisch mit dem Oberkörper, als würde er ein Baby wiegen. Ich weiß, dass ich mir mein Mitgefühl nicht ansehen lassen darf. Deswegen bemühe ich mich um ein versteinertes Gesicht.
    »Möchte vielleicht noch jemand anfassen?«
    »Sie ist es«, kommt es gleichzeitig aus mehreren Dutzend Kehlen, kein Ruf, sondern ein gemeinsamer Atemzug. Und dann gehen sie doch alle vor mir auf die Knie.

Hauptquartier
    Ich will das nicht, denke ich, während ich in einer schneeweißen Badewanne liege, mich in einem riesigen Himmelbett ausruhe, auf dem Balkon sitze und in den Himmel schaue und die ganze Zeit versuche, dabei nicht allzu viel Wonne zu empfinden. Ich bin bereit zu lügen, um mein Leben zu retten. Bin bereit, mich für jemanden auszugeben, die ich nicht bin, um eine Chance zu haben, heil rauszukommen. Aber ich brauche weder den Luxus noch die Bewunderung noch heimliche Blicke noch all die Fremden um mich herum, die mit anderen herrisch sprechen, mir dagegen jeden Wunsch von den Augen ablesen. Ein wenig erinnert mich ihr Verhalten an Doktor Rudolf Rettemi, den ich in Gedanken immer noch meinen Vater nenne. Wahrscheinlich würde er sich bei der Vorstellung, dass er und diese Freaks etwas gemeinsam haben, im Grab umdrehen.
    Ich ruhe mich nur kurz aus, denke ich die ganze Zeit, dann mach ich mich davon.
    Das Unbegreiflichste ist, dass die Villa, in der ich mich gerade befinde, in einem Normalenviertel steht. Beziehungsweise in dem, was früher als solches galt. Alles ist geblieben, bloß diejenigen, die hier mal lebten, sind nicht mehr da. An der Fassade wehen die azurblauen Fahnen der Freak-Bewegung, in der Ecke ein geschwungenes J und die Silhouette eines Mannes, der die Faust zum Kampf erhoben hat. Die Blumenbeete sind zertrampelt und manche Hauswände mit Blut bespritzt.
    Die Villa ist bevölkert von Freaks, die kommen und gehen, die feinen Teppiche mit ihren Stiefeln zertreten, in den Salons Meetings abhalten und wieder verschwinden. Ich beobachte sie von oben oder hinter Türen und

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