Spiegelriss
Gardinen versteckt, bilde mir ein, unsichtbar zu sein. Ihre leuchtenden Frisuren scheinen nicht so recht zu ihren Gesichtsausdrücken zu passen, die Dosen an den Gürteln nicht zu den rasselnden Ketten, die ich immer noch als reine Deko einordne. Die Schablonen in meinem Kopf kommen durcheinander, zudem alle hier einen glasklaren Blick zu haben scheinen und anscheinend nur Wasser trinken.
Ich habe wieder mal keine Ahnung, wo ich bin. Ich versuche, mich an den Stadtplan zu erinnern, den Kojote für mich auf die Erde gezeichnet hat. Ich will mir eine richtige Karte besorgen mit allen Straßen. Gleich nachdem ich fertig gegessen habe. Vor mir stehen: eine Schüssel Tomatensalat, der bereits leer gelöffelte Teller mit der Brokkolicremesuppe, der gerade erst probierte Kalbsbraten in Quittensoße, als Nachtisch ist eine gekühlte Speise aus Baiser, Schlagsahne und Beeren angekündigt. Ich zwinge mich, langsam zu essen, nicht alles in mich hineinzuschaufeln, obwohl es mir viel weniger peinlich ist als in dem einen Moment, als Ivan mir in seiner Küche beim Schlingen zugeschaut hat.
An dem großen, ovalen Tisch sitzen drei Männer mit gestärkten Servietten auf den Knien, je links und rechts von mir und noch einer gegenüber. Im Gegensatz zu mir interessieren sie sich kaum für den Inhalt ihrer Teller. Sie haben, registriere ich, einen geradezu bemerkenswert schlechten Appetit.
Ich lege die Gabel am Tellerrand ab und schaue in die Runde. Müde graue Gesichter unter leuchtenden Frisuren. Links eine weiß-rot gestreifte Mähne, die auf die breiten Schultern des Trägers fällt und sich ziemlich schlecht mit dem grauen Dreitagebart verträgt. Er sollte sich entweder rasieren oder auch im Gesicht färben, denke ich. Geradeaus sitzt ein Kahlkopf, der wenige indigoblaue Haarinseln auf dem Schädel trägt, die aussehen wie Blumenbeete auf dem Asphalt. Rechts eine vergleichsweise dezente zartgelbe, kinnlange Frisur.
Alles erwachsene ernste Männer. Die mir beim Essen zuschauen, nur anstandshalber auf ihren Tellern herumstochern, aber sich verlegen abwenden, sobald ich den Blick hebe. Auch sie haben Angst vor mir.
»Wem hat die Villa früher mal gehört?«, frage ich, nachdem ich den dritten Bissen des köstlichen Kalbsbratens heruntergeschluckt habe.
»Dem Feind«, sagt der Kahlköpfige sanft.
»Und wo ist der Feind jetzt?«
»Sie haben während der Unruhen ihr Haus verlassen. Mehr wissen wir nicht.«
Von wegen, denke ich. Als ob sie einfach weggegangen wären. Ich weiß, dass das Haus auch Kinderzimmer hat: In manchen Räumen, durch die ich gegangen war, stehen Kisten mit Spielzeug an die Wand geschoben. Und unter meinem Bett habe ich einen Schnuller gefunden.
»Der Besitzer muss ein ziemlich hohes Tier gewesen sein«, sage ich. »Bei dem Haus. Bei den Möbeln. Bei dem Grundstück.«
»War er auch«, sagt der Gelbe.
»Jemand, den man kennt?«, frage ich.
Sie wechseln Blicke, dann nickt der Gestreifte.
Ich schneide mir noch ein Stück vom Kalbsbraten ab.
»Sind Sie eigentlich eine einzige große Freak-Gruppe oder viele kleinere?«, frage ich. Obwohl es eine Frage ist, auf die ich wirklich gern eine Antwort hätte, brechen sie plötzlich in lautes Lachen aus. Meine Wangen glühen auf, ich werde wütend. Sie merken es und verstummen sofort.
Was ist sie doch noch für ein unschuldiges Kind – es ist nicht das erste Mal, dass ich jemanden das hinter meinem Rücken flüstern höre.
Die Stimmung ist merkwürdig. Die Blicke, die sie mir zuwerfen, auch. Seit mich die junge Bande, die ein derart reges Interesse an meinen Narben gezeigt hatte, hierherbegleitet und vorgestellt hat, kümmern sich diese Erwachsenen um mich. Ich musste meine Narben diesmal nicht entblößen – die Jungs hatten bereits davon berichtet, außerdem hefteten sich viele aufmerksame Blicke auf mein Gesicht. Ich fühlte mich mit den Augen eingescannt und mit den vorhandenen Fotos verglichen.
Sie haben sich schneller als gedacht überzeugen lassen. Ich bin Juli Rettemi, die nach ihrer barbarischen Hinrichtung auferstanden ist, die Phee, die ihren Vater ermordet haben soll – eine üble Verleumdung, die diese Freaks, wie sie mir sogleich versichert haben, sowieso niemals geglaubt hätten. Jetzt bin ich wieder da und sie warten auf etwas, als wäre ich ein Zirkushund, der Kunststücke vollführen soll.
Zugleich ist ihnen ihre eigene Erwartung sichtlich unangenehm, schließlich ist eine Phee etwas Unbegreifliches, und das haben sie alle verinnerlicht.
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