Spiegelschatten (German Edition)
Sammy etwa, Leonards Mörder zu sein? Das war absurd. Sammy könnte keiner Fliege etwas zuleide tun.
Er beschloss, vorsichtig zu antworten.
» Ja. Warum fragen Sie?«
Bert Melzig sah ihm unverwandt in die Augen. Als wollte er ihn bei einer Lüge ertappen. Björn gab seinen Blick fest zurück.
» Er ist tot«, sagte Rick Holterbach, und Bert Melzigs Augen wurden unmerklich schmaler.
Es traf Björn mit solcher Wucht, dass er schwankte.
Sammy? Tot?
Hinter ihm erstarrte Maxim mitten in der Bewegung. Björn fühlte es mehr, als er es sah. Das Geräusch des Brotschneidens war abrupt verstummt. Die Stille, die in der kleinen Küche entstand, war erstickend dicht.
Björn horchte in sich hinein. Da waren keine Sätze, keine Worte, da war nichts. Er fühlte sich leer, vollkommen hohl.
Und die Stille wuchs und wuchs.
Sekunden vergingen. Minuten. Niemand sagte etwas.
Björn betrachtete seine Knie, dann das Tischbein, das in seinem Blickfeld lag. Ein Tropfen von etwas, das aussah wie hart gewordenes Eigelb, hing daran, festgehalten in der Bewegung. Draußen krächzte eine Krähe.
» Was…« Maxim räusperte sich. » Was ist mit ihm passiert?«
» Er wurde ermordet«, sagte Bert Melzig. » Seine Leiche wurde heute gegen Mittag gefunden.«
Seine Leiche.
Björn fixierte seine Hände, die so fest ineinander verschränkt waren, dass es ihm wehtat.
Sammys Leiche.
Sammy war nicht mehr Sammy. Es gab jetzt nur noch seine Leiche. Eine tote Hülle ohne Wärme, ohne Leben. Wie die hauchfeinen papiernen Kokons, aus denen die Libellen schlüpfen. Nur dass Sammys Hülle nicht zart war und wie aus Papier und dass sie vermodern würde, von Stunde zu Stunde mehr.
Ihm wurde schlecht, und er rannte ins Badezimmer, riss den Klodeckel hoch, ließ sich auf die Knie fallen und erbrach in einem heftigen Schwall das Mittagessen und in einem zweiten den Rest seines Mageninhalts.
Nachdem er sich den Mund ausgespült hatte, kehrte er langsam und wacklig in die Küche zurück.
Die Szene hatte sich nicht verändert. Die Polizisten saßen noch da, wo sie vorher gesessen hatten, und Maxim stand an der Arbeitsplatte, blass und geschockt, das Brotmesser in der Hand. Krümel lagen zu seinen Füßen.
Björn stellte sich neben ihn.
» Wie ist er… gestorben?«, fragte er.
» Er wurde erschlagen«, sagte Bert Melzig. » Genau wie Leonard Blum.«
Björn nickte. Er tat das ohne Absicht. Als es ihm bewusst wurde, ließ er es bleiben.
Genau wie Leonard Blum.
Wie selbstverständlich der Satz klang und wie ungeheuerlich er doch war. Was passierte hier? Wie konnte es sein, dass Leonard und Sammy beide tot waren?
Erschlagen.
Wie räudige Hunde, dachte er.
Dabei wusste er nicht einmal genau, was das überhaupt war, ein räudiger Hund. Er musste an magere Hyänen denken. An Rudel hungriger Wölfe in dunklen, winterlichen Wäldern. An mittelalterliche Szenen aus pompösen, grausamen Filmen.
So etwas war doch nicht Wirklichkeit.
Erschlagen.
Nicht heute. Nicht hier.
Nicht in seinem Leben.
» Können Sie uns ein bisschen über ihn erzählen?«, fragte Rick Holterbach.
Erzählen. Was gab es über Sammy zu sagen?
Dass er ein freundlicher Mensch war ( gewesen war), zuverlässig, lebhaft, meistens gut drauf. Dass ihn aber manchmal das heulende Elend packte (gepackt hatte ), weil er eine starke Sehnsucht empfand (empfunden hatte ) nach etwas, von dem er nicht mal wusste (gewusst hatte ), was es war ( gewesen war). Dass er einen großen Freundeskreis besaß (immer noch, so was hörte mit dem Tod nicht auf), in dem es niemanden, wirklich niemanden gab, dem man eine solche Tat zutrauen konnte.
All das sagte er nicht.
Wie konnte er über Sammy in der Vergangenheitsform reden?
» Sammy war ein feiner Kerl«, hörte er Maxims Stimme. » Er war das, was man einen guten Menschen nennt, auch wenn sich das altmodisch anhört.«
Ja. Genau das war Sammy… gewesen.
» Sammy?«, fragte Bert Melzig. » So haben Sie ihn genannt?«
Björn nickte. Er durfte gar nicht daran denken, dass die Leute schon unterwegs waren, um zu ihrem kleinen Fest zu kommen.
Essen? Trinken? Lachen?
Unmöglich.
» Geht es Ihnen nicht gut?«, hörte er Bert Melzig fragen.
Nein. Es ging ihm alles andre als gut. Aber er würde sich zusammennehmen. Sammy zuliebe.
Er hob den Kopf und fragte: » Was wollen Sie wissen?«
*
Sie hatte es nicht mehr geschafft, Björn wegen des zweiten Mordes anzurufen, sondern war einfach ins Auto gestiegen und losgefahren. Vorher hatte sie bei Romain
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