Spiel Der Sehnsucht
nächsten Grafen von Westcott unter dem Herzen tragen, ist unumstößlich.«
»Aber es ist nicht gleichgültig«, widersprach Lucy und zwang sich zu einer aufrechteren Haltung. »Er ist nicht mehr wütend über das Kind, aber er wird wütend werden, wenn er erfährt, daß ich hier bin.«
Wieder seufzte die Gräfinwitwe und faßte den Knauf ihres Stockes fester. »Ich weiß, daß er nicht möchte, daß ich irgend etwas mit diesem Kind zu tun habe, und ich kenne alle seine Gründe dafür. Er glaubt, ich habe ihn vernachlässigt, indem ich ihm eine hervorragende Aus-bildung zuteil werden ließ. Er glaubt, ich habe ihm Unrecht getan, indem ich ihn zum Erben eines riesigen Vermögens gemacht habe. Er glaubt...«
»Sie haben ihn vernachlässigt, als Sie ihn aus den Armen seiner Mutter rissen und ihm niemanden gaben, der ihn an ihrer Stelle liebte. Und niemanden der wiederlieben konnte.«
»Sie war ein Flittchen«, murmelte Antonia. »Eine schmutzige Zigeunerhure, die meinen Sohn erpreßt hat.«
»Aber das war doch nicht Ivans Schuld«, rief Lucy aus.
»Es war nicht seine Schuld, und doch war er der Leidtra-gende. Sie und seine Mutter hätten sich um sein Wohlergehen kümmern müssen, aber keine von beiden hat es getan, und auch sein Vater nicht.«
»Er wurde gut genährt, gekleidet und erzogen!«
»Nichts davon ist ein Ersatz für Liebe. Sogar heute ...«
Lucy schwieg, um ihre nächsten Worte zu überdenken, dann fuhr sie mit etwas gedämpfterer Stimme fort: »Bis jetzt will er nicht zulassen, daß ich ihn liebe. Körperlich, ja, aber mehr nicht. Ich glaube, er fürchtet sich davor, mich wiederlieben zu müssen. Er fürchtet sich! Und er furchtet sich, das Kind zu lieben, das wir haben werden.«
Sie legte die Hand auf ihren Bauch, da, wo das Kind still in ihrem Körper heranwuchs. »War es denn wirklich so schwer für sie, einen verängstigten kleinen Jungen zu lieben? Liebe war es doch, was er am meisten brauchte«, endete sie mit bebender Stimme.
In der Stille, die Lucys Worten folgte, saß Lady Westcott mit versteinertem Gesicht da, als habe sie Lucys Stimme nicht gehört. Lucy bedauerte die alte Frau fast ebensosehr, wie sie Ivan bedauerte. Großmutter und Enkel waren zwei stolze, eigensinnige Menschen - und sehr, sehr einsam.
Lucy erhob sich mühsam. »Ich glaube, ich sollte jetzt zu Bett gehen. Könnten Sie mir jemanden zu Hilfe schicken?«
Auch Lady Westcott stand langsam auf. Ihr Gesicht war ausdruckslos, und Lucy fiel wieder einmal die Ähnlichkeit zwischen Ivan und Antonia auf. Ivan besaß die gleichen blauen Augen wie seine Großmutter, die gleiche Arroganz und die gleiche Unfähigkeit, jene zu lieben, die dieser Liebe am meisten bedurften.
Tränen stiegen Lucy in die Augen, als sie sich von der Gräfinwitwe abwandte. Sie hörte, wie diese das Zimmer verließ. Gleich darauf trat eine Zofe ein, die Lucy beim Auskleiden half. Doch als sie dann endlich in dem hohen Bett - dem Bett, das sie so kurz mit Ivan geteilt hatte -
lag, ließ sie ihren Gefühlen freien Lauf.
Sie rollte sich auf den Bauch, vergrub ihr Gesicht im weißen Leinen des Kopfkissens und weinte, wie sie noch nie zuvor geweint hatte. Bittere Tränen, die aus der Tiefe ihres Herzens emporquollen, weinte sie um Ivan, um seine Großmutter und um die Liebe, die beide weder geben noch empfangen konnten. Sie weinte um sich selbst, über ihre Einsamkeit und zurückgestoßene Liebe.
Am heftigsten jedoch weinte sie über ihr ungeborenes Kind, das sie selbst bereits so sehr liebte und das doch nie die Liebe und Zuwendung seines Vaters erhalten würde.
Am nächsten Morgen fühlte Lucy sich noch schlechter als in den bisherigen Wochen ihrer Schwangerschaft. Wie am vorigen Tag wollte die Übelkeit nicht weichen, so daß Lucy den größten Teil des Vormittags in ihrem Zimmer blieb und sich zu entspannen versuchte.
Als das nicht half, entschloß sie sich, sich auf die Ter-rasse zu setzen und zu lesen. Doch das machte es nur noch schlimmer. Ihr Magen befand sich in einem so rebellischen, unruhigen Zustand, daß sie fürchtete, sich vor den Augen aller übergeben zu müssen. Antonia war die Mühsal einer Schwangerschaft nicht unbekannt. Der kleine Derek jedoch konnte seine Besorgnis kaum unterdrücken.
»Soll ich dir ein Kissen bringen?« fragte er. »Oder möchtest du etwas trinken?«
»Nein danke, mein Lieber. Warum bist du eigentlich nicht in den Ställen?« antwortete Lucy und biß sich gleich darauf auf die Lippen, als ein besonders grausamer
Weitere Kostenlose Bücher