Spiel Der Sehnsucht
gewesen.
Er räusperte sich. »Naja, eigentlich wollte ich mir die Pferde ansehen. Weißt du etwas über ihre Stammbäu-me?«
Ein strahlendes Lächeln aus einem zahnlückigen Mund belohnte ihn. Dereks Augen waren grün wie Lucys, stellte Ivan fest, während der Junge auf das Tier im Verschlag vor ihnen zeigte: »Das ist mein Lieblings-pferd ...«
23
Ivan war seit zehn Tagen weg. Er hatte lediglich erklärt, er habe geschäftlich in der Stadt zu tun.
Anfangs war Lucy niedergeschmettert gewesen, denn sie hatte geglaubt, sie kämen gut voran. Als Ivan nach jenem letzten Abendessen davongestürmt war, war er nach einigen Stunden ins Haus zurückkehrt. Er hatte nicht auf der Couch geschlafen, sondern war zu Lucy ins Bett gekommen, und sie hatten sich geliebt, ohne dabei Zorn oder Verzweiflung zu empfinden. Sie war in Ivans Armen eingeschlafen und am nächsten Morgen in seinen Armen erwacht und hatte gehofft, daß dies eine süße Gewohnheit werden könnte.
Allerdings hatte sie sich zusammengenommen und nicht von ihrer Liebe gesprochen, da solche Geständnisse ihn jedesmal in die Flucht zu schlagen schienen.
Aber er war trotzdem geflohen. Er hatte ihrer ganzen Familie auf Wiedersehen gesagt und Lucy einen Ab-schiedskuß gegeben. Nun war er weg, und Lucy fühlte sich elend. Zumindest schrieb er diesmal öfter und ausführlicher. Lucy fühlte sich nicht ganz so verlassen wie bei seinem ersten Verschwinden. Aber er fehlte ihr genauso.
Seltsamerweise war Derek nun zu ihrem ständigen Begleiter geworden. »Post für dich«, rief er soeben, während er über den Rasen trabte und mit dem Umschlag wedelte. »Diesmal aus Dorset«, verkündete er und reichte Lucy den Brief. »Ist es ein Brief von Lord Ivan?«
Lucy warf ihr Strickzeug beiseite. Ihre Hände zitterten, als sie versuchte, das Siegel zu erbrechen, ohne dabei das dünne Pergament zu zerreißen.
»Das Schreiben ist von Lady Westcott«, sagte Lucy, unfähig, ihre Enttäuschung vor dem Kind zu verbergen.
»Mist.« Derek ließ sich mit gekreuzten Beinen neben Lucy ins Gras fallen. Seine Miene erhellte sich. »Schreibt sie etwas über Lord Ivan?« fragte er hoffnungsvoll.
Lucy überflog den Brief und schüttelte den Kopf. Von Ivan stand nichts darin, lediglich Antonias Glückwünsche zu dem kommenden Baby und eine Andeutung, daß Lucys Anwesenheit im Westcott-Haus in Dorset er-wünscht sei.
»... meine Gesundheit ist nicht so gut, wie ich es mir wünschen würde. Eine schwere Grippe hat mich erwischt und ich kann meine Räume nicht verlassen.«
Die Grippe! Für ältere Menschen verlief diese Krankheit oftmals tödlich.
»Kommt er bald zurück?« frage Derek und lenkte Lucys Gedanken kurzzeitig von der Erkrankung der Gräfinwirwe ab.
Lucy betrachtete das hoffnungsvolle Gesicht ihres Neffen. Eine Art Bindung schien sich zwischen ihm und Ivan entwickelt zu haben, auch wenn sie nicht wußte, wie und wann. Es tat ihr leid, das Kind enttäuschen zu müssen.
»Ich weiß es nicht, er ist nicht in Dorset gewesen.«
Dereks niedergeschlagenes Gesicht spiegelte Lucys eigene Gefühle wider. Stirnrunzelnd faltete sie den Brief zusammen. Ivan war weg, und seine Großmutter war krank. Vielleicht gab es etwas, wodurch sie beiden Situa-tionen gerecht werden konnte. Sie erhob sich und streckte Derek die Hand hin. »Ich werde meinem Mann an seine Stadtadresse schreiben und ihm mitteilen, daß ich auf der Stelle nach Dorset abreise.«
»Fährst du jetzt auch weg?«
»Ja. Möchtest du mitkommen?«
Graham war über die Tatsache, daß Lucy abreisen wollte, enttäuschter als darüber, daß Derek sie begleiten würde. Das kam daher, dachte Lucy, daß sie nun die Grä-
fin von Westcott war, während Derek noch immer nur der zweite Sohn war.
Wegen des Trubels um die Reise nahm Derek die Gleichgültigkeit seiner Familie ihm gegenüber kaum wahr. »Wie lange wird die Fahrt dauern?«
»Einen guten Tag, falls die Straßen trocken sind.«
»Und wie lange werden wir bleiben?«
»Das weiß ich noch nicht, Derek. Wir müssen sehen, wie alles läuft.«
»Wird Lord Ivan auch dorthin kommen, wenn er mit seinen Geschäften in der Stadt fertig ist?«
Lucy nagte an ihrer Unterlippe. »Vielleicht«, antwortete sie. Bald, so vermutete sie. Ivan würde sicher wütend darüber sein, daß sie zu seiner Großmutter fuhr, denn er wollte der Gräfinwitwe die Freude über ihre Schwangerschaft nicht gönnen. Doch Lucy hatte ihm in ihrem Brief alles genau auseinandergesetzt. Daß Ivan kein
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