Spiel Der Sehnsucht
Schwangerschaft schien sie zum Leuchten zu bringen, machte sie noch weiblicher, sanfter, wärmer.
Lucy lachte gerade über etwas, das Derek gesagt hatte.
Dann drängte sie ihrer Mutter eine weitere Portion Gemüse auf. »Das ist gesund für deine Verdauung, genauso wie ein Spaziergang nach dem Essen«, sagte sie zu ihr. »Wir können zusammen gehen.« Sie wandte sich an Ivan. »Würdest du uns bei einem Spaziergang durch den Garten begleiten?«
Ein Spaziergang gemeinsam mit Lucys Mutter? Eine Gefühlswoge schwappte über Ivan hinweg. War es Eifersucht? Verletzter Besitzerstolz? Mit mäßigem Erfolg unterdrückte er seine Emotionen. Er wollte mit Lucy im Garten Spazierengehen, aber ohne ihre Mutter. Er wollte Lucy für sich allein, ohne eine Begleitperson, die ihre Aufmerksamkeit von ihm ablenken konnte.
»Vielleicht ein andermal«, antwortete er und bemühte sich, gleichmütig zu klingen. Als Lucy ihn anblickte, als versuche sie die Tiefen seiner Gedanken auszuloten, schaute er weg. »Ich nehme noch etwas Wein.« Er winkte dem Diener, der neben der Tür stand.
Trotzdem spürte er Lucys Blick noch immer auf sich, und ihn überkam das entmutigende Gefühl, sie könne jeden seiner Gedanken lesen. Sie kannte ihre Wirkung auf ihn, und sie wußte, welche Macht sie über ihn hatte.
Er hatte das immer vermeiden wollen, und nachdem es geschehen war, hatte er sich stets bemüht, es vor ihr zu verbergen. Doch sie hatte es herausgefunden, und wenn er nicht aufpaßte, so fürchtete er, würde sie diese Waffe gegen ihn einsetzen. Dabei hatte er sich vor langem geschworen, daß er niemals einem Menschen Macht über sich einräumen würde - und schon gar nicht einer Frau.
Abrupt erhob er sich. »Würdet ihr mich entschuldigen?« sagte er und nahm dem Diener die Weinflasche aus der Hand. »Ich muß noch etwas erledigen; etwas Dringendes, das ich vergessen hatte.«
Er hörte ihre fragenden Stimmen hinter sich, als er den Raum verließ.
»Was auf Erden ...«
»Was kann wohl derart wichtig sein?«
»Lucy? Also wirklich, das ist ...«
»Ivan!«
Dieser Ausruf kam von Lucy. Doch Ivan ging weiter.
Keine zehn Pferde hätten ihn auf diesem Schauplatz familiärer Harmonie festhalten können. Obwohl er wußte, daß er unvernünftig reagierte, konnte er nicht stehen bleiben. Er begab sich zur Hintertür und ging hinaus in den Spätsommerabend. Und er hörte nicht auf zu schwitzen.
Vor den Ställen holte ihn der kleine Derek ein.
»Gehst du reiten?«
Ivan sah auf den kleinen, aber gut gepflegten Stall. Er sah überall hin, nur nicht auf den neunjährigen Jungen.
»Ich weiß noch nicht.«
»Ach. Aber wenn du reiten gehst, kann ich dann mitkommen?«
»Ich werde nicht reiten«, brummte Ivan.
»Oh.«
Bei diesem leisen, bedrückten Laut kam Ivan sich vor wie ein Menschenfresser. Er verwünschte innerlich seine unnatürliche Reaktion auf Lucy und ihre ganze Familie und wandte sich zu dem Jungen. »Ich werde nicht reiten«, wiederholte er in freundlicherem Ton. »Und was machst du hier?«
Der Junge zuckte die Achseln. »Weiß nicht.« Seine Hand wanderte rastlos über eine der Stalltüren. »Ich wollte nur sehen, was du machst.«
Ivan hätte den Jungen gerne zurück ins Haus geschickt. Das letzte, was er jetzt brauchte, war ein Bengel, der sich an seine Rockschöße hing wie ein herrenloses Hündchen. Doch als er zu Derek hinabblickte, sah er genau das: ein verlorenes Hündchen, das nach Aufmerksamkeit suchte, wo immer es sie finden konnte.
Ivan fiel ein, was Sir James Mawbey über Großbritan-niens feudales System des Erstgeburtsrechts gesagt hatte, über die Beziehungen zwischen Vätern, Söhnen und Brü-
dern. Derek war das Musterbeispiel eines jüngeren Sohnes, und obwohl sein Los wesentlich besser war, als es Ivans Schicksal gewesen war, so war er doch ein einsamer kleiner Junge, der stolpernd seinen Platz in der Welt suchte. Die Bevorzugung seines älteren Bruders durch den Vater war beim heutigen Angelausflug klar zutage getreten. Ob er ihm eine Fliege am Haken befestigte oder ihn für einen Fang lobte, Graham hatte ein deutlich größeres Interesse an seinem Erben Stanley als an Derek gezeigt. Das hatte zur Folge gehabt, daß Derek versucht hatte, sich an Ivan anzuschließen. Und er versuchte es immer noch.
Obwohl Ivan keine große Lust verspürte, sich ausgerechnet jetzt mit Derek zu beschäftigen, brachte er es doch nicht über sich, ihn wegzuschicken. Schließlich war er selbst einmal ein einsamer kleiner Junge
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