Spiel Der Sehnsucht
Verständnis dafür hatte, daß Familienmitglieder sich umeinander kümmerten, war für Lucy kein Grund, die kranke alte Frau ihren Dienstboten zu überlassen. Wenn Ivan jemals glücklich mit seiner Frau zusammenleben wollte, mußte er nun diese Lektionen lernen, die er sich in seiner Kindheit nicht hatte aneignen können. Lektionen über Liebe, Familie und Verantwortung. Lucy war mehr als bereit, ihm darin beizustehen, doch Ivan würde ihr auf halbem Wege entgegenkommen müssen.
Lucy und Derek begannen ihre Reise im Morgengrau-en und erreichten ihr Ziel nach Einbruch der Dunkelheit.
Während des ganzen schier endlosen Tages war Lucy von Übelkeit geplagt. Zu ihrer Erleichterung war Derek froh darüber, vorne auf dem Kutschbock sitzen zu dürfen. Als sie endlich ankamen, fühlte Lucy sich wie ein ausgewrungener Putzlappen und wollte nur noch ins Bett fallen. Doch es war iiir nicht vergönnt. Lady Antonia war wach und wartete auf sie.
»Sie sollten im Bett bleiben, damit Sie nicht wieder fallen«, schalt Lucy.
»Unsinn«, antwortete die alte Frau heiser. »Ihre Nachrichten sind die beste Medizin für mich. Und jetzt sind Sie hier.« Sie hielt Lucy an den Schultern, und auf ihrem Gesicht erschien ein Lächeln, wie diese es noch nie bei Lady Antonia gesehen hatte. Doch dann bemerkte sie, wie schlecht es Lucy ging. »Sie sehen schrecklich aus!
Erschöpft! Kommen Sie, ab ins Bett! Fenton! Fenton, helfen Sie Lady Westcott in ihr Schlafzimmer.«
Da fiel Lucys Blick auf Derek, der klein und verloren neben der Kutsche stand.
»Lady Westcott, Sie haben unseren Gast noch nicht be-grüßt. Derek!« Lucy winkte den Jungen heran.
Obwohl es offensichtlich war, daß Lady Antonia nicht viel an einem neunjährigen angeheirateten Großneffen lag, begrüßte Derek seine Gastgeberin formvollendet. Lu-cy legte ihren Arm um seine Schulter und drückte ihn stolz. »Ich komme nachher, um dir gute Nacht zu sagen«, meinte sie. Fenton wies sie an: »Geben Sie ihm ein Zimmer in meiner Nähe.« Dann folgte Sie Ivans Großmutter.
Gemeinsam schlurften die beiden Frauen erschöpft die Treppe hinauf.
Lucy mußte der Gräfinwitwe zugute halten, daß sie sich zurückhielt, bis der Koffer ins Zimmer gestellt, das Nachtkleid herausgelegt und warmes Waschwasser her-eingebracht worden war. Dann entließ Lady Antonia die beiden Dienstmädchen mit einer herrischen Geste und richtete ihren Blick erwartungsvoll auf Lucy.
»Nun sagen Sie, geht es Ihnen gut? Keine Beschwer-den oder Probleme?«
Lucy ließ sich in einen Sessel fallen. Eines der Dienstmädchen hatte ihr die Stiefeletten aufgeschnürt, und nun zog sie sie von den Beinen und bewegte ihre steifen Zehen. Sie wußte, daß sie der Befragung durch Lady Antonia nicht entgehen würde, also war es am besten, sie gleich hinter sich zu bringen.
»Abgesehen von der Übelkeit geht es mit gut.«
Antonia nickte. »Nur morgens oder auch am Nachmittag?«
»Morgens immer, nachmittags nur gelegentlich.«
»Das deutet auf einen Jungen hin«, stellte die alte Frau mit glänzenden Augen fest.
»Wenn es ein Junge ist, dann scheint er Kutschen nicht besonders zu mögen«, brummte Lucy.
»War Ihnen schlecht während der Reise?«
»Den ganzen Tag«, gestand Lucy. »Deshalb fühle ich mich auch so erschöpft.«
Wieder nickte die alte Dame. »Dann sollten Sie sofort zu Bett gehen. Ich werde gleich ein Mädchen rufen. Aber zuvor noch eine Frage.«
Sie hielt inne, aber Lucy wußte bereits, was sie fragen wollte, und antwortete, ehe die Gräfinwitwe fortfahren konnte. »Zuerst war er schockiert. Aber ich glaube, er erholt sich langsam.«
»Sie wollen sagen, daß er außer sich war vor Zorn«, verbesserte sie die Gräfinwitwe. »Mir brauchen Sie nichts vorzumachen. Er war wütend darüber, daß Sie schwanger sind, denn das Kind würde auch mein lang ersehnter Erbe werden.« Sie seufzte, und ihr Gesicht, das vorher vor Erregung und Freude geleuchtet hatte, wurde betrübt. Lucy entschloß sich zur Offenheit.
»Können Sie Ivan aus seinem Benehmen Ihnen gegenüber wirklich einen Vorwurf machen?«
Das Kinn der alten Frau zuckte nach vorn, und in ihren blauen Augen glomm ein erregtes Licht auf. Doch ebenso schnell erlosch es wieder.
»Nein«, erwiderte Lady Antonia, »ich mache ihm keinen Vorwurf. Aber ich wünschte ...« Sie schüttelte den Kopf, während ihre Stimme verebbte. Dann nahm sie sich zusammen. »Es ist gleichgültig, was ich wünsche oder ob er zornig ist oder nicht. Die Tatsache, daß Sie den
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