Spiel Der Sehnsucht
Er griff nach dem Zipfel ihres Schultertuchs und zupfte scharf daran, worauf Lucy, höchst unklug, sich umdrehte und versuchte, ihm den Zipfel zu entwinden.
»Lassen Sie los!« befahl sie.
»Und wenn nicht?« grinste er verschlagen.
»Ich lasse mich nicht auf Ihre albernen Spielchen ein, Lord Westcott.«
»Nennen Sie mich Ivan.«
»Vielleicht sollte ich Sie John nennen«, gab Lucy schnippisch zurück, die sich daran erinnerte, wie sehr die anglisierte Version seines Namens ihn erzürnte. Doch falls er auch jetzt zornig war, so wußte er es gut zu verbergen.
»Ivan, John, mein Liebster«, spöttelte er. »Es ist mir gleich, welchen Namen Sie zärtlich in mein Ohr hau-chen.« Er beugte sich zu ihr vor und zog dabei langsam das ganze Tuch von ihren Schultern.
Lucy geriet in Panik. Ihm zu zeigen, wie sehr er sie aus der Fassung brachte, war das letzte, was sie beabsichtigte. Aber sie wußte sich nicht mehr zu helfen.
Sie ließ den Schal los, dieses wollene Dreieck, das sie als Zwölfjährige mühsam gehäkelt hatte, und tat, was sie auf der Stelle hätte tun sollen, als sie Ivan ihm Garten erblickt hatte - nein, was sie sofort hätte tun sollen, als er zum ersten Mal seine verführerischen Augen auf sie gerichtet hatte: Sie drehte sich um und rannte einfach weg.
Die Gräfinwitwe beobachtete Lucys hastigen Abgang aus dem Garten mit gespanntem Interesse. Zu Lady Antonias großer Enttäuschung folgte Ivan ihr nicht. Doch die Enttäuschung ließ nach, während sie ihm weiter zuschaute.
Denn er blieb lange stehen und starrte auf die Tür, durch die das Mädchen verschwunden war. Dann hob er den Schal an sein Gesicht.
Er atmet ihren Duft ein, dachte Antonia. Ein zufriedenes Grinsen breitete sich über ihr Gesicht. Es war diese kecke junge Frau, die Ivan wollte. Ihr Plan funktionierte.
Sie ließ die schwere Gardine wieder sinken und ging zur Tür. Ivan wollte Lucy Drysdale. Aber wollte Miss Drysdale Ivan?
Es war an der Zeit, das herauszufinden.
Als sie den gedämpften Klang von Schritten auf dem Flur vernahm, öffnete sie ihre Tür.
»Ach, Miss Drysdale«, rief sie in gespielter Überraschung, »warum sind Sie so früh auf? Ich dachte, nur wir alten Leute litten unter Schlaflosigkeit.« Sie betrachtete das Mädchen von oben bis unten und runzelte die Stirn.
»Waren Sie draußen? Ist etwas im Gange? Etwas, das ich mißbilligen würde?«
»Nein, nein, es ist - es ist nichts dergleichen. Ich konnte einfach nicht schlafen, und da dachte ich - ich dachte, ein kleiner Gang durch den Garten würde mir guttun.«
»Es ist recht kühl draußen. Sie hätten ein Tuch umneh-men sollen, um nicht zu frieren.«
»Ja. Ja, das hätte ich«, stammelte Lucy. »Tut mir leid, Mylady, falls ich Sie gestört haben sollte. Würden Sie mich bitte entschuldigen?«
Antonia entließ sie mit einer Handbewegung. »Vergessen Sie nicht: in meinem Wohnzimmer um zehn Uhr.«
Miss Drysdale nickte nur und verschwand wortlos in ihrem Schlafzimmer.
Gut, sehr gut, dachte Antonia, als sie sich wieder in ihr Zimmer zurückzog. Sie ging zum Fenster und schaute wieder in den Garten hinab, doch Ivan war nicht mehr da. Aber auch der Schal war verschwunden, stellte Antonia leise kichernd fest.
Dies war jedenfalls die vergnüglichste Saison, die sie in London verbrachte, seit sie sich damals bei ihrer eigenen ersten Saison so heftig in Gerald Thornton verliebt hatte. Es war wundervoll gewesen und schrecklich und herrlich zugleich. Wundervoll, die intensiven Gefühle in sich zu entdecken; schrecklich die Furcht, diese Gefühle würden möglicherweise nicht erwidert; und herrlich zu erfahren, daß sie doch erwidert wurden.
Welche Phase dieser Gefühle durchlebte Miss Drysdale gerade? Vermutlich den schrecklichen Teil, nahm Antonia an. Und Ivan?
Ihre Befriedigung verblaßte ein wenig. Befand Ivan sich in der wundervollen Phase, weil er die Wirkung entdeckt hatte, die er auf Miss Drysdale ausübte? Oder befand er sich lediglich in einem Stadium der Lust? Sie mußte sich sehr in acht nehmen, damit er ihren Plan nicht durchschaute.
Was Miss Drysdale betraf, so würden sie ja nachher ein Gespräch führen. Doch gleichgültig, wie diese Unterredung verlaufen würde, eines war sicher: Sie würde Lucy Drysdale genau zwischen Ivan und Valerie stellen, so daß Ivan genügend Zeit bekäme, die wundervollen Gefühle der Liebe zu entdecken. Denn letzten Endes konnte es nur die Liebe sein, dessen war Lady Antonia gewiß, in deren Stricken er sich verfangen
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