Spiel Der Sehnsucht
daß ihre Brust zu schmerzen begann. »Sie bringen da etwas durcheinander, und zwar mit voller Absicht.«
Ivan begann, die Sonnenuhr zu umrunden. Sofort tat auch Lucy einige Schritte, so daß die Sonnenuhr zwischen ihnen blieb.
»Falls Sie hergekommen sind, um mich zu ärgern, werde ich gehen«, warnte sie ihn.
»Heißt das, Sie bleiben hier, wenn ich Sie nicht ärgern will? Denn ich versichere Ihnen, Lucy, daß es mir fern liegt, Sie verärgern zu wollen.«
»Sehen Sie? Sehen Sie? Sie tun es wieder! Sie sagen diese - diese suggestiven Dinge. Sie nennen mich Lucy, obwohl ich es Ihnen verboten habe. Und Sie verfolgen mich wie ein großes Raubtier!«
Ivan stieß einen geräuschvollen Seufzer aus und schüttelte in gespielter Entmutigung den Kopf. Doch wenigsten hörte er auf, auf Lucy zuzugehen. Erst da fiel ihr auf, wie nachlässig er gekleidet war; er trug weder Weste noch Rock, um sein Hemd zu bedecken, auch ein Halstuch hatte er nicht umgeschlungen. Sein kragenloses Hemd stand am Hals weit offen, und im ersten Morgenlicht konnte Lucy deutlich die dunklen Locken erkennen, die aus dem Ausschnitt lugten.
Mit seinem langen Haar, das ebenso unordentlich war wie seine Kleidung, und mit diesem perfiden Diamanten am Ohr glich er von Kopf bis Fuß dem Zigeuner, als der er geboren war - ein dunkler, gefährlicher Mann, der alle ihre Sinne in Flammen setzte.
Doch noch war Lucy in der Lage, diese Sinne zu beherrschen. Sie wollte Ivan nicht die Kontrolle der Situation überlassen.
»Fanden Sie den Ball bei den McClendons angenehm?« Lucy hatte die Absicht, die Konversation ganz oberflächlich zu halten. Eine innere Stimme ermahnte sie dagegen, die Unterhaltung lieber ganz abzubrechen und ins Haus zurückzugehen. Doch ihre rebellische Seele zog es vor, diese Stimme des Verstandes zu überhören.
»Angenehm? Unterhaltsam wäre wohl das bessere Wort.«
»Nun, Sie hatten doch bestimmt Freude an dem Abend.«
»Freuden, wahrhaftig«, antwortete er. Seine Blicke wanderten über ihren Körper und verweilten bei den losen Flechten ihres Haares, ihren nackten Armen und ihrer schlicht gekleideten Figur.
Dachte er an den Kuß? Hatte er so viele Freuden dabei empfunden wie sie?
Lucy zog ihr Schultertuch enger um sich, als könne sie damit den Aufruhr der Gefühle, den seine geflüsterten Worte und sein durchdringender Blick verursacht hatten, ersticken. Doch es nutzte wenig. Es war, als würde ihre Haut sich straffer spannen und eine außerordentliche Empfindsamkeit entwickeln, sobald Ivan ihr seine Aufmerksamkeit zuwandte.
»Ich ziehe mich besser in mein Zimmer zurück«, sagte sie, während sie ihr Schultertuch festhielt und ein paar Schritte von ihm zurücktrat.
»Ist Ihnen kalt?« Er kam um die Sonnenuhr herum auf sie zu. Lucy hätte am liebsten auf der Stelle Reißaus genommen. Gleichzeitig sehnte sie sich danach, sich in seine Arme zu werfen. Zum Glück hatte sie sich noch ein Quentchen Verstandes bewahrt, das sie hinderte, das eine oder das andere zu tun.
Doch einfach dazustehen und zu warten, bis er sie erreicht hatte, das war auch nicht besser.
Ivan blieb genau vor ihr stehen und streckte die Arme nach ihr aus.
Lucy hielt den Atem an. Ihr Körper neigte sich ihm entgegen, und fast hätte sie die Augen geschlossen in Erwartung seines Kusses.
Aber Ivan küßte sie nicht. Er legte ihr lediglich das Tuch enger um Hals und Schultern. Dann ließ er seine Hände fallen und blieb reglos vor ihr stehen, näher, als der Anstand es eigentlich erlaubte, aber doch nicht so nahe, daß es unanständig gewesen wäre.
Doch Anstand war nicht, was er im Sinn hatte, wie seine folgenden Worte bewiesen. »Ich weiß eine viel bessere Art, sich zu wärmen, als mit einem blöden Schal.«
Lucy war schon warm genug, doch das hätte sie nie zugegeben. »Dessen bin ich gewiß, Mylord. Jedoch dieser Schal ist für meine Bedürfnisse völlig ausreichend.«
»Und was für Bedürfnisse sind das, Lucy? Sie gehen auf die Dreißig zu, ein Alter, das Sie für immer zur alten Jungfer stempelt, zur vertrockneten ledigen Tante Ihrer Neffen und Nichten. Wollen Sie wirklich behaupten, daß alle Ihre Bedürfnisse befriedigt sind?«
»Ich möchte diese Unterhaltung wahrhaftig nicht fortsetzen. Würden Sie mich bitte entschuldigen.« Lucy schob sich an ihm vorbei und ging stracks auf den Dienstboteneingang zu. Nur noch zehn Schritte, zählte sie; noch neun, noch acht.
Als sie nur noch drei Schritte von der Tür entfernt war, hatte Ivan sie eingeholt.
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