Spiel Der Sehnsucht
nachdrücklich, weitere Aufforderungen zum Tanz energisch abzulehnen und Valerie besser im Auge zu behalten.« Damit drehte sie sich um und schritt erhobenen Hauptes und in majestätischer Haltung an Lucy vorbei aus dem Zimmer.
Lucy wußte, daß dies nur ein einleitendes Scharmützel war. Es brauchte wenig Überlegung, um einzusehen, daß Lady Westcott sie am nächsten Morgen ohne weiteres entlassen konnte - und es wohl auch tun würde.
Lucy fühlte sich plötzlich kraftlos. Sie sah zu Valerie hinüber, der die Tränen nur so über das Gesicht flössen.
Doch statt Mitgefühl empfand Lucy lediglich Ärger.
Wenn Valerie in der Gesellschaft überleben wollte, sowohl in dieser Saison als auch für den Rest ihres Lebens als die Frau eines Lords, dann würde sie etwas mehr Rückgrat beweisen müssen.
»Trocknen Sie Ihre Tränen«, sagte sie freundlicher zu ihr, als ihr eigentlich zumute war. »Sie werden lernen müssen, daß Tränen eine schwache Verteidigung sind.
Ein starker Wille und klare Richtlinien werden Ihnen von größerem Nutzen sein. Kommen Sie«, fügte sie hinzu, »setzen Sie sich und versuchen Sie, sich zu fassen.«
»Aber ich verstehe das nicht«, weinte Valerie, »ich ha-be mich doch nur ein wenig vergnügt. Ich weiß, daß das nicht die Männer sind, die meine Eltern akzeptieren würden, aber das ist mein erster Ball. Ich wußte nicht...« Sie hielt inne und betupfte ihre Augen mit dem Taschentuch.
»Und was ist mit Lord Westcott? Will sie mich mit ihm zusammenbringen? Das kann ich nicht, Miss Drysdale, niemals! Sie müssen mir helfen!«
Sie begann erneut so heftig zu schluchzen, daß es Lucy zu Herzen ging und sie sich schuldig fühlte. Sie rief sich ins Gedächtnis, daß Valerie ein mittleres Kind war. Sie war durch ihre fordernden Geschwister und ihre über-forderten Eltern zu dem schüchternen Geschöpf geformt worden, das jetzt vor Lucy saß. Es nutzte nichts, ihr Vorwürfe wegen ihrer Schwäche zu machen. Es wäre besser, dachte Lucy, Valerie zu ermutigen, eigene Stärke zu entwickeln.
Doch, so überlegte sie, während sie Valerie tröstete und ihr half, ihr verweintes Gesicht wieder herzurichten, durfte sie darüber nicht ihr eigenes Problem vergessen.
Das morgige Gespräch mit Lady Westcott konnte sehr wohl das Signal für das baldige Ende von Lucys Aufenthalt in London bedeuten. Sie mußte sich schnell etwas einfallen lassen, sonst säße sie zum Ende der Woche schon wieder in Somerset.
Und dann?
Valerie würde von Lady Westcott in eine Ehe getrieben werden, in der sie zugrunde gehen würde.
Und sie, Lucy, würde Sir James' Vorlesungen verpassen. Sie wäre um die Chance gebracht, den einzigen Mann kennenzulernen, dessen Intellekt ihrem eigenen entsprach. Sie würde nie erfahren, ob sie zusammenge-paßt hätten, denn sie wäre für den Rest ihres Lebens in Houghton Manor eingeschlossen, wo der Rest ihres Verstandes vor Langeweile dahinmodern würde.
Und Ivan Thornton würde als einziger fröhlich und unbehelligt seines Weges gehen. Immer wieder Ivan Thornton! Lucy wurde wütend.
Morgen wollte sie Lady Westcott daran erinnern, daß deren Pläne ihre Wurzel in dem Haß hatten, den Ivan gegen seine Großmutter hegte. Wenn die Gräfinwitwe ihre Ziele verwirklichen wollte, was immer diese Ziele auch sein mochten, mußte sie anfangen, Lucy nicht als Werkzeug, sondern als Verbündete zu betrachten.
Noch hatte Lucy allerdings nicht die leiseste Ahnung, wie sie Lady Westcott davon überzeugen sollte.
8
Lucy erwachte noch vor Sonnenaufgang. Das schien zu einer unangenehmen Gewohnheit zu werden, dachte sie verärgert, während sie ihr Kissen aufschüttelte, um eine bequemere Position zu finden. Sie hätte gerne weiterge-schlafen, denn sie war erst wenige Stunden zuvor zu Bett gegangen.
Sie warf sich auf die andere Seite und ächzte, als ihre Decke sich dabei unter ihrer Achsel verfing. Zudem hatte sie quälende Kopfschmerzen und hatte sich auch im Schlaf nicht entspannen können.
Sie seufzte frustiert und starrte in den weißen Satin-himmel des Bettes. Weshalb war sie aufgewacht? Diesmal waren keine Kutschenräder draußen zu hören, und Ivan Thornton verabschiedete sich nicht unter der Tür von einem Flittchen.
Lucy verzog das Gesicht. Sei fair, dachte sie. Nicht einmal Ivan würde eine gewöhnliche Hure in sein Haus bringen. Trotzdem, das leichtfertige Frauenzimmer, das er vor einigen Nächten hier gehabt hatte, war auch nicht viel besser als eine gewöhnliche Hure, nur teurer
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