Spiel des Todes (German Edition)
ruft sie vom Balkon aus zurück.
Er hat die Arme auf das geschnitzte Holzgeländer gestützt. »Maria, Maria!« Ihr
Pap ist ein hagerer, knochiger Mann mit verblassendem rotblondem Haar, das der
Wind über der Stirn aufstellt. Er hatte Krebs, und man hat ihm den Magen
herausoperiert. Auch sein Augenlicht hat nachgelassen.
Das macht sich Maria zunutze, denn sie will hinunter zum Weiher,
kaum hundert Meter vom Haus entfernt. Ihr Gang verändert sich, während sie
durch die flache Mulde abwärtsgeht, an den Schafen vorbei. Sie hat die Strümpfe
ausgezogen, trägt die Schuhe in der Hand und geht barfuß.
»Maria, Maria!«, hört sie verschwommen. Über die Schulter schaut sie
zurück. Er hat die Hände um den Mund gelegt, aber der Wind verweht sein Rufen.
Ihr Vater, alleinerziehend nach Mams Tod, ist ein aufbrausender, beherrschender
Mann. Doch ihr gegenüber verhält er sich meist sanftmütig und untadelig. Auch
wenn er meint, Herr über ihren Körper und ihre Seele und ihr ganzes Leben zu
sein, als besäße er das Recht, Maria zu verwalten, zu verkaufen oder zu
verschwenden. Er hütet sie wie seine Schafe und sein Vieh.
Sie lässt sich nicht aufhalten. Der Pap kann sie nicht sehen. Im
Gehen pflückt sie die Gummis von den Zöpfen und lässt das Haar herunter. Ein
Schaf ist ihr gefolgt und beschnüffelt die nackten Füße, noch bevor sie ins
Wasser eintauchen. Sie fährt zärtlich durch den dichten Pelz des Tiers, während
die Zehen beider Füße abwechselnd kleine Spritzer im Weiherwasser aufwirbeln.
Sie saugt die Waldluft in tiefen Atemzügen ein, die den Kopf frei machen.
Möglich, dass sie in dem Moment, als das Wasser ihre beiden Beine bis zum Knie
umspielt, eine Ahnung davon bekommt, was Begierde sein kann. Begierde, die den
Atem stoppt oder die Lungen zum Platzen bringen kann. Begierde, die entsteht,
wenn das Schaf die raue Zunge an ihren Waden reibt. Pure Lust, die sie zwingt,
ihren Blick von den nackten Beinen im Wasser zu nehmen. Dieses erste
schemenhafte Bewusstsein von Begierde – und davon, Objekt der Begierde zu sein
– ist, als verdichte sich die Luft, die sie umgibt, und rufe ein erstes vages
Vorgefühl des Erwachsenseins hervor.
Nur in der Schule, die sie mit dem Schulbus erreicht, kommt sie mit
anderen Kindern zusammen. Mit den Mädchen und Buben des Dorfs und aus den
umliegenden Dörfern. Vor Monaten noch hat sie die Buben nicht einmal bemerkt
oder sich über ihre Frechheiten ärgern müssen. Seit wenigen Wochen aber ist da
etwas, was die jungen Kerle interessant macht. Immer öfter ist’s sie selbst,
die neckt und über die blöden Witze kichert. Jeden Abend freut sie sich auf den
Morgen in der Schule und die Schüler. Und sie hasst jedes Wochenende, das sie
auf Gapperding im Gefängnis ihres Vaters zu verbringen hat. Kein
Kindergeburtstag, keine Nikolausfeier, kein Sportverein, kein Zitherspielen,
kein Schuhplattln wie bei den anderen. Immer der gleiche Trott. Der Pap, die
Kühe, die Schafe und ich.
Auch möglich, dass Maria sich über die Erwartungsfreude, die sie an
jenem Sonntag gepackt hat, ihre Gedanken gemacht hat. Dass sie – bis zu den
Knien im Wasser, die Hände im Schafspelz verkrault – überrascht war über die
Bereitwilligkeit, mit der sie sich bisher in ihr Schicksal ergab. In der Zeit nämlich,
die sie benötigt hat, um dem Vater zu entfliehen und vom Haus zum Weiher zu
gelangen, ist das Mädchen mit der unterdrückten und aufgestauten Sehnsucht des
Kindes, die Spinnweben von den Fenstern der Vergangenheit zu wischen, zur Frau
geworden.
Es ist ein Frühlingssonntag im Jahr 1995, und Maria ist vierzehn
Jahre alt.
»Hey, wo bist du?« Hummers Stimme.
Es ist wie ein Erwachen. Unsicher sah sie den Mann an, der ihr
gegenübersaß. Sie, das kleine Mädchen vom Land, und er, der Mächtige aus der
großen Welt, der so Großes von ihr wollte. Ihr wurde ganz schwindlig.
»Der Didi ist einverstanden. Er vertraut mir halt. Du sollst dich am
Mittwoch bei ihm vorstellen. Übermorgen. Gleich um neun Uhr in der Früh.«
Als er Marias fragenden Blick gedeutet hatte, setzte er nach. »Dr.
Dieter Smissek. Produzent und Regisseur der Telenovela. Mein Spezl. In München.
›Gegen den Wind‹.«
ZWEI
So kam Maria Schwarz zum Film. Mit dem entschlossenen Gang zum
Produzenten Dieter Smissek räumte sie auf einen Schlag siebenundzwanzig Konkurrentinnen
aus dem Weg, die von den ursprünglich über hundert Bewerberinnen übrig
geblieben waren. Auf dem besten Weg, das Casting zu gewinnen, war
Weitere Kostenlose Bücher