Spiel mir das Lied vom Wind
erschüttern. Jedenfalls bin ich dort in Sicherheit und kann gleichzeitig ein Auge auf mein altes Zuhause werfen.
Heute nähere ich mich nur, weil weit und breit kein Auto zu sehen ist, keines vor meinem ehemaligen Zuhause und keines in der neuen Garage. Gerade als ich durch das Loch in der Tür steigen will, gerät mir ein vertrauter und doch schrecklicher Duft in die Nase. Ich mache kehrt, folge ihm und stoße neben der Bank auf einen frischen, kleinen Hügel, den es früher nicht gab. Wie steinig die Erde ist.
Davis’ letztes Werk? Er buddelt für sein Leben gern, manchmal so tief, dass er nicht mehr zu sehen ist. Ich schaue mich um.
Davis, wo steckst du, Kumpel?
3. Kapitel
Melinda Krux fuhr am 10. Juni auf das Gelände der Kreispolizeibehörde Euskirchen und parkte haarscharf neben einem Streifenwagen. Laut Anzeige im Armaturenbrett war es 9.32 Uhr, die Außentemperatur betrug 11 Grad Celsius. Sie stellte den Motor aus, raffte ihre rote Handtasche an sich und stieg aus. Sie war mit den Nerven am Ende. Sie riss die hintere Tür auf, bemerkte nicht, wie sie den Streifenwagen touchierte, schnallte Bruno von seinem Kindersitz und nahm ihn auf den Arm.
»Ruhe!«, herrschte sie ihn an.
»Polilei«, schniefte Bruno und zeigte auf den Streifenwagen.
»Polizei heißt das.«
»Polilei«, wiederholte er trotzig. Sein kleines Gesicht war hochrot. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Seine dünnen, blonden Locken klebten an seinem Kopf. Die letzten fünfzehn Minuten hatte er mit Schreien verbracht. Seine Mutter hatte ihn mitten aus seinen Bauklötzchen herausgerissen und ins Auto gepackt. Aber er konnte auch ohne Anlass jederzeit aus Leibeskräften zu brüllen beginnen. Selbst nachts. Erstickungsanfälle waren dabei keine Seltenheit. Alles nur, um seine arme Mutter an den Rand des Wahnsinns zu treiben, vermutete Melinda. Er war drei Jahre alt. In dem Alter sei das normal, hatte der Kinderarzt gesagt.
Beladen mit Kind und Tasche marschierte Melinda Krux auf das Gebäude zu. Sie war eine hochgewachsene, junge Frau. Sie trug ein weißes Sommerkleid mit viereckigem Ausschnitt, schwarzem Gürtel und schwingendem Rock, der kurz über den Knien endete. Die ganze Pracht war übersät von schwarzen Punkten. Ihre nackten Beine endeten in schwarzen Riemchen-Sandaletten.
Auf dem Polizeihof überfiel sie ein Kälteschauer. Gänsehaut überzog Beine und Arme in Windeseile. Für die Schafskälte, die das Land erschauern ließ, war sie viel zu dünn angezogen. Sie hatte es zu spät bemerkt. In Köln war es immerhin ein paar Grad wärmer als hier, und im Auto war die Heizung an gewesen.
Die Sonnenbrille in ihren dunkelblonden, hochgesteckten Haaren war an einem Tag wie heute nur ein Accessoire ohne Funktion. Ganz im Gegenteil zu den großen, silbernen Kreolen, die an ihren Ohren schaukelten. Sie konnte noch so fix und fertig sein, ohne die Kreolen ging sie nicht aus dem Haus. Wenn sie Schultern und Hals bei jeder Bewegung sacht streiften, gaben sie ihr Kraft und Mut, erinnerten sie an bessere Zeiten und vermittelten ihr das Gefühl, dass noch nicht alles verloren sei.
Bruno steckte in einem Matrosenanzug mit kurzen Ärmeln und Beinen. Auf dem weißen Lätzchen hatten sich feuchte Flecken angesiedelt, eine Mischung aus Schokolade, Tränen und Speichel. Seine Arme und Beine waren dick und krumm und rosa.
Hinter einer Trennscheibe aus Glas standen ein paar Polizisten in Uniform lässig mit Kaffeebechern in den Händen und unterhielten sich. Nur ein Beamter schien im Dienst, er saß direkt hinter der Sprechklappe und blickte erwartungsvoll zu Melinda hoch.
Bruno sagte wieder »Polilei« und zeigte mit einem vom Lutschen aufgeweichten Fingerchen auf die Hüter des Gesetzes, der Reihe nach.
Die Beamten winkten und lächelten gnädig zurück. Mal in Richtung Mama, mal in Richtung Kind. Ein erfreulicher Anblick, der süße Fratz auf dem Arm der attraktiven Frau. Melinda lächelte gequält zurück, strich Bruno über den Kopf und dachte, dass der Bengel heute voll auf seine Kosten kam. Und sie hoffte, dass er sich entsprechend benehmen würde.
»Wir haben ein Problem«, sagte Melinda, kramte ein großes Foto aus ihrer Handtasche und presste es gegen die Glasscheibe. »Wir suchen diesen Mann. Er heißt Herrmann Krux. Ich bin seine Frau. Das Kind hier ist sein Kind.«
»Ist der Mann minderjährig?«, fragte der Polizist durch die Sprechklappe.
»Sieht er etwa so aus? Er ist achtundvierzig Jahre alt.«
»Handelt es sich um eine
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