Spiel mir das Lied vom Wind
hilfsbedürftige Person?«
Melinda verdrehte sie Augen. Sie kannte diese Fragen. Sie antwortete jedes Mal mit den gleichen Worten: »Ich habe Unterlagen dabei, aus denen ersichtlich ist, dass er mir für unseren gemeinsamen Sohn seit drei Jahren Unterhalt schuldet. Von Gesetz wegen befreit den Verpflichteten nur der Tod vom Unterhalt. Ich …«
»Schon gut«, unterbrach der Polizist sie hastig. »Gehen Sie bitte in den ersten Stock, Zimmer 124. Dort wird man Ihnen weiterhelfen. Nehmen Sie bitte links den Aufzug.«
»Danke.«
Die Tür öffnete sich mit einem Summen. Melinda rauschte hindurch und eilte die Treppen hinauf. Ihr Respekt vor Polizisten hielt sich in Grenzen. In den letzten drei Jahren hatte sie die Erfahrung gemacht, dass sie ihnen genauso auf die Sprünge helfen musste wie anderen Männern. Gute Ideen fielen nicht aus dem Himmel. Bis gestern war Melinda ihrer mangelnden Phantasie ausgeliefert gewesen, sie selbst hatte auch keinen Schimmer gehabt, wo und wie ihr abtrünniger Ehemann aufzutreiben war. Aber dank Gisela Melzers Tipp hatte sie nun zumindest eine Fährte, der sie folgen konnte. Besser als nichts.
Melinda hatte sich geschworen, sie würde dieses Gebäude nicht verlassen, bevor sie Klarheit hatte. Inständig hoffte sie, dass Brunos Trotzphase zu etwas Nutze war.
Vor Zimmer 124 standen drei Stühle. Einer war frei. Melinda setzte Bruno darauf und zwackte ihn in den Bauch. Sie hatte noch nicht herausfinden können, wo sich der Ein-und Aus-Knopf für das Geschrei befand. Der Bauch war es nicht, Bruno gluckste nur, ließ die dicken, krummen Beine baumeln und kam sich wichtig vor. Warum schrie er nicht? Warum bekam er ausgerechnet dann keine Schreiattacke, wenn sie sie zur Abwechslung mal gebrauchen konnte?
Die Tür von Zimmer 124 öffnete sich. »Der Nächste bitte!« Die Frau, die der Tür am nächsten saß, erhob sich, die Tür schloss sich hinter ihr. Melinda pendelte nervös auf und ab. Das konnte Stunden dauern. Es war zum Verzweifeln.
Zwei Polizistinnen schlenderten an Bruno vorüber. Die eine strich ihm über die blonden Locken und sagte: »Na, mein Kleiner?«
Da legte er los. Melinda atmete auf. Sein sirenenartiges Gebrüll hallte durch die Gänge und klang nach Misshandlung oder Verbrennung dritten Grades. Die Polizistin schlug eine Hand vor den Mund und blickte entsetzt zu Melinda herüber. Melinda winkte ab.
Allgemeine Unruhe und Besorgnis machten sich breit. Türen öffneten sich. Pflichtbewusst erkundigten sich die Beamten nach dem schreienden Kind. Wurde ihre Hilfe gebraucht? Konnten sie jemanden retten? Konnten sie jemanden verhaften? Melinda winkte ab.
Endlich öffnete sich auch die Tür von Zimmer 124. Die Frau verließ das Büro.
»Möchten Sie zu uns?«, fragte der Polizist.
»Unbedingt.«
»Bitte.«
Bruno und Melinda wurden vorgezogen. Ziel erreicht. Melinda stellte Bruno auf den Boden und zerrte das brüllende Kind hinter sich her. Er reichte ihr gerade bis zu den Knien. Kaum stand der Kleine im Büro, verstummte er, und alle atmeten erleichtert auf.
Der Polizist teilte sich das Büro mit einer Kollegin. Sie saßen einander gegenüber. Man bot Melinda einen Stuhl an, aber sie blieb lieber stehen. Sie zog es vor, dass sie zu ihr aufsahen und sie liebte es, ab und zu ihr Gewicht schwungvoll von einem Bein aufs andere zu verlagern und zu beobachten, wie ihr Gegenüber auf den fliegenden Rock blickte.
Ehe das Gespräch beginnen konnte, wurde Bruno aktiv. Er wand sich aus der Hand seiner Mutter, stolperte zu einem der Schreibtische, reckte seinen Hals, schob sein Kinn auf den Schreibtisch. Er zeigte auf ein kleines, silbernes Streifenwagen-Spielauto und rief: »Polilei!«
Der Sprachschatz ihres Kindes schien nur aus diesem einem Wort zu bestehen, dachte Melinda zornig. Das hatte sie diesem Versager von Vater zu verdanken. Das arme Kind. Völlig verdorben für den Rest seines Lebens. Wahrscheinlich würde es später Polizist werden wollen.
Während Bruno mit dem Auto spielen durfte, er kniete bereits auf dem Boden, schob es hin und her und machte »Brumm, Brumm«, brachte Melinda ihre Probleme mit Herrmann Krux vor und belegte ihre Behauptungen durch ihre Unterlagen. Es gab einen Gerichtsbeschluss gegen ihren Ehemann. Das war eindeutig und erstickte alle Fragen im Keim.
Bis auf eine.
»Warum kommen Sie gerade zu uns nach Euskirchen?«, fragte die Polizistin erstaunt, nachdem sie Blatt für Blatt durchgeblättert hatte. »Sie sind wohnhaft in Köln
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