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Spiel mir das Lied vom Wind

Spiel mir das Lied vom Wind

Titel: Spiel mir das Lied vom Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Clasen
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erreichen. Sie hatten nicht den Bus!
    Fluch oder Segen? Sonja richtete den Rückspiegel aus, bis sich darin nicht nur der Ausblick aus den Fenstern zeigte, sondern auch ein Ausschnitt ihres Gesichtes. Sie strich sich den Pony aus der Stirn und zog die Augenbrauen hoch, und die Grübelfalten über der Nasenwurzel verschwanden. Sie reckte das Kinn und lächelte sich zu. »Den Bus habe ich, Jungs! Das habt ihr jetzt davon!«
    Wie das Aufsehen, das der verräterische Bus in den betroffenen Orten erregen würde, ausfallen würde, war nicht abzuschätzen. Als sie gestern darin ins Wahlbüro gefahren war, war sie nicht weiter beachtet worden. Aber Gemünd stand auch nicht auf Krux' Liste.
    Heute aber sollte sie auf alles gefasst sein. Lieber stieg sie wieder aus, lief ins Haus zurück, um ihre beiden Waffen zu holen: Die Pistole und das Handy. Beides sortierte sie ins Handschuhfach, das von der Kriminaltechnik bis auf den letzten Krümel geleert worden war.
    Sonja kurbelte die Seitenscheibe herunter. Es hatte lange nicht geregnet, die wilde Blumenwiese auf dem Seitenstreifen und die gemähten Felder, die dahinter lagen, waren trocken und staubig. Ein warmer Duft stieg auf. Schwalben und Pollen segelten fröhlich durch die Luft. Der letzte Augusttag versprach ein Sommertag zu werden. Die Schwüle, die für die Städte angekündigt worden war, würde es auf dem Lande nicht geben. Sommerfrische, die zu Sonjas Vorhaben nicht so recht passen wollte.
    In Wintzen fand sie leere Straßen, geschlossene Fenster und Türen vor, obwohl sie demonstrativ langsam mit dem Bus durch den Ort zockelte. Es fehlte nicht viel, und sie hätte durch Hupen auf sich aufmerksam gemacht. Wie der Bäcker oder der Schrottsammler.
    In Broich und in Bronsfeld erging es ihr ebenso, und ihr Triumph über den Besitz des auffälligen Mobils verwandelte sich in Missmut. Die Verlassenheit der Orte – leere Straßen, geschlossene Geschäfte, Rollläden vor den Fenstern – kam ihr feindselig vor. Aber sie wusste auch, dass es einen anderen Grund hatte. Es war die Hitze, und es war Mittag. Mittags waren immer alle Türen zu.
    Zu allem Überfluss blieb sie in Morsbach hinter einer Beerdigung hängen. Der Zug schleppte sich über die Straße Richtung Herhahn. Die Menge, die gemächlich hinter dem Sarg und den nächsten Angehörigen herschlurfte, war groß. Obwohl sich einige Trauernde in den letzten Reihen nach ihr umdrehten und schwatzten, machte niemand Anstalten, Platz für den Bus zu machen. Der Respekt vor dem Toten verbot es Sonja zu hupen. Schritttempo war angesagt. Und Geduld. Das konnte dauern.
    Sonja lehnte sich zurück, ihre Augenlider wurden schwer. Sie fühlte sich leicht betäubt vom Lavendelduft, der in der Hitze zum Gestank wurde. Der Bus hatte selbstverständlich keine Klimaanlage. Der Beutel war auf der Ablage so heiß geworden, dass sie nur etwas kaltes Wasser hätte darauf gießen müssen, um einen Tee zu haben. Sie warf ihn kurzerhand aus dem Fenster.
    Kaltes Wasser! Allein bei der Vorstellung musste sie schlucken. Sie griff nach der Wasserflasche auf dem Beifahrersitz und ließ sie wieder fallen. Sie war zur Wärmflasche geworden.
    Sie dachte daran, ins Forsthaus zurückzukehren, ein paar Stunden zu schlafen und sich einen einfacheren Plan auszudenken, als plötzlich Bewegung in die Veranstaltung kam.
    Ein paar der schwarz gekleideten Gestalten lösten sich aus der Formation der Trauernden. Sie sprangen umher, als suchten sie etwas, bückten sich, griffen nach etwas, das auf dem Boden lag. Sonja sah ausgestreckte Arme, und dann flog etwas auf sie zu. Im nächsten Augenblick brach die Frontscheibe in Millionen von Splittern. Sonja trat die Bremse durch, knallte in den Sicherheitsgurt, schlug die Arme vors Gesicht. Der Motor machte ein, zwei Hüpfer, dann erstarb er. Der Bus wackelte hin und her wie ein Pudding. Ging erst hinten, dann vorne in die Knie. Weitere Scheiben gingen zu Bruch. Sonja spähte zwischen ihren Armen durch und erblickte aufgerissene Münder, wutverzerrte Gesichter hinter den Fenstern, die auf-und abtauchten. Man trat, man schlug, man hatte Stöcke oder Eisen, Messer oder Steine. Gleich würde die ganze Geschichte kippen.
    Sie krümmte sich auf dem Fahrersitz in dem irrsinnigen Bedürfnis, sich klein zu machen, zu verschwinden, abzutauchen. Natürlich hatte der Bus keine Zentralverriegelung. Nichts an Sicherheit. Er war eine Falle. Sie legte beide Daumen auf die Hupe und ließ sie nicht wieder los. Sie schrie. Hecktüre und

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