Spiel unter Freunden
Grace MacBride.
«Jetzt ist es eh
nur eine Frage der Zeit.» Sie saß kerzengerade auf
ihrem Stuhl, die Hände entspannt auf dem Schoß, einen
Ellbogen leicht seitlich abgespreizt, um das leere Schulterhalfter
auszugleichen. «Vor zehn Jahren waren wir alle Studenten im
letzten Studienjahr an der University of Georgia in
Atlanta.»
«Verdammte
Scheiße.» Harley schloss die Augen und schüttelte
traurig den Kopf. Die restlichen Mitglieder der Monkeewrench-Crew
schienen auf ihren Stühlen zusammenzusacken, als sei ihnen
etwas Unwiederbringliches entglitten.
«Fünf
Menschen wurden in jenem Herbst auf dem Campus ermordet»,
fuhr Grace in brutal monotonem Tonfall fort, ohne Magozzis Gesicht
aus den Augen zu lassen.
«Guter
Gott», murmelte Gino unwillkürlich. «Ich kann mich
erinnern. Sie waren dabei?»
«Aber ja.»
Magozzi nickte, darauf bedacht, das Atmen nicht zu vergessen. Er
hatte nicht genau gewusst, warum diese Leute in den Untergrund
gegangen waren, aber mit einem derartigen Albtraum hatte er nie
gerechnet. Er entsann sich an die Morde und den Feuersturm an
Publicity, der darauf gefolgt war. «Das ist also der Fall,
der in der FBI-Akte unter Verschluss gehalten
wird?»
«Richtig.»
«Und welchen
Sinn sollte das haben? Warum sollte man die Akte unter Verschluss
halten? Wochenlang wurde doch in den Nachrichten fast über
nichts anderes berichtet …»
«Aber nicht
über alles», sagte Annie trocken. «Es gab
bestimmte Einzelheiten, die der Öffentlichkeit nie
zugänglich gemacht wurden. Nicht einmal die Polizei von
Atlanta erfuhr alles, und das FBI möchte es dabei
belassen.» Magozzi äußerte sich nicht dazu.
Sicher, es war durchaus möglich, dass das FBI eine Akte unter
Verschluss hielt, um Fehler zu vertuschen, aber es war auch
möglich, dass es geschah, um Beweismittel oder Zeugen zu
schützen. «Okay.» Er sah Grace an. Sie war blass,
offensichtlich angespannt, und sie blickte starr geradeaus.
«Ich nehme an, Sie zählten zu den Verdächtigen oder
waren zumindest mit den Opfern bekannt.» Grace sprach so
emotionslos, als würde sie eine Einkaufsliste vorlesen.
«Kathy Martin, Daniella Farcell, meine Mitbewohnerinnen.
Professor Marian Amburson, meine Betreuerin und Kunstlehrerin.
Johnny Bricker. Ich war eine Zeit lang mit Johnny ausgegangen, und
wir blieben auch weiter eng befreundet, nachdem wir uns getrennt
hatten.» Sie sah ihn zwar noch an, sagte aber nichts
mehr.
«Das wären
vier», gab Magozzi ihr einen sanften Anstoß, und sie
reagierte mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.
«Weil ich zu
allen Opfern eine so enge Verbindung hatte, kamen die Polizei in
Atlanta und das FBI nach dem vierten Mord zu der Überzeugung,
ich sei das, was sie ein indirektes Opfer nannten. Dass wer immer
die Morde beging, mich zu strafen versuchte, indem er Menschen
auslöschte, an denen mir etwas lag, Menschen, auf die ich mich
stützte. Also erfand man eine neue Freundin für mich, um
den Killer in die Falle zu locken: Libbie Herold, FBI. Sie hatte
zwei Jahre zuvor die Akademie verlassen und war sehr gut. Sehr
professionell. An ihrem vierten Tag als meine Zimmergenossin
brachte er sie ebenfalls um.» Magozzi behielt den
Blickkontakt mit ihr bei, denn sie schien es so zu wollen. Alle
anderen sahen auf die Füße oder den Boden oder die
eigenen Hände, wo man typischerweise hinsah, wenn man sich von
dem abgrenzen wollte, was um einen herum geschah. Nach einer
höflichen Anstandspause wenn man so wollte fragte
er sie: «Was ist mit dieser jetzigen Gruppe? Waren Sie damals
auch schon befreundet?» Sie nickte, die Lippen zu einem
wissenden Lächeln gewölbt, das mit guter Laune nichts zu
tun hatte. «Mehr als das. Wir waren wie eine Familie. Und das
sind wir noch immer. Und ja, das FBI hat uns alle
überprüft …»
«Gnadenlos unter
die Lupe genommen», korrigierte Harley.
Sein Gesicht war
gerötet und sein Tonfall harsch und verbittert.
«Und glauben Sie
bloß nicht, uns entgeht, was Sie jetzt denken. Die Cops und die Feds
haben uns auf dieselbe Schiene geschoben. Entweder ermordete Grace
ihre Freunde, oder wahrscheinlicher noch, weil wir alle verschont
geblieben waren, musste es einer von uns sein. Brach ihnen das
Herz, als sie uns nichts anhängen konnten, oder hätte es
zumindest getan, wenn die Drecksäcke ein Herz gehabt
hätten.» Zum ersten Mal bemerkte Magozzi in Harley
Davidson den Mann, dem er nicht gern in einer dunklen Gasse
begegnet wäre. Er war nicht einfach nur verbittert, sondern in
ihm tobte
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