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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esi Edugyan
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erkennen. Weißer Rauch stieg aus dem Schornstein auf, fast unsichtbar vor dem weißen Himmel. Ich blickte die Straße entlang. Ein riesiger leerer Himmel über einer endlosen Ebene erstreckte sich vor mir.
    Ich hatte keine Wahl. Hiero hatte mich nicht eingeladen, aber zum Umkehren war es jetzt zu spät. Ich war nun einmal hier.
    Da fiel mir etwas ein. »Was ist, wenn Hiero gar nicht da ist? Wo sollen wir dann schlafen, Mann?«
    »Er ist da«, sagte Chip. »Es ist schon alles richtig.«
    Er sagte das in so einem Ton, dass mein Herz ins Stottern kam.
    Chip marschierte los und ich hinterdrein. Außer meinem eigenen Koffer musste ich auch noch zwei von ihm schleppen. Weit und breit kein Mensch zu sehen, der Himmel strahlend hell, leuchtendes Elfenbein. Irgendwie hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte, und ich kam nicht drauf, was es war. Aber dann wusste ich es plötzlich: Es war totenstill, so als gäbe es kein einziges Lebewesen inmitten dieser Eichen, keine Vögel, nichts. Als wären wir hier am äußersten Rand der Welt.
    Als wir in diesem großartigen Licht dahingingen über kahle Felder, musste ich an die denken, die wir verloren hatten, an Ernst, Paul, den Großen Fritz. An Delilah.
    Ich dachte an Ernst, der beschlossen hatte, sich an seinem Vater zu rächen, indem er sich umbringen ließ – für ihn gab es keine andere Möglichkeit. Er meldete sich freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht und ließ sich an die russische Front
schicken. Er wollte es dem Mann heimzahlen, der sein Leben zerstört hatte. Keine fünf Wochen später, bei einem Einsatz in der Nähe von Orel, wurde er durchs Auge geschossen und starb.
    Und ich dachte an Paul, der zurück in unsere Wohnung gegangen war, um sein Medikament gegen Epilepsie zu holen. Er hatte nie jemandem von seiner Krankheit erzählt, und keiner von uns hatte eine Ahnung gehabt. Paul war zusammen mit Delilah unterwegs gewesen, als ein Kerl, der früher auch Jazzpianist gewesen war und dann bei der Gestapo als Spitzel angeheuert hatte, ihm auf der Straße begegnete und sofort auf ihn losging. Am Ende wurde Paul festgenommen und als Staatsfeind und Rassenschänder ins KZ Sachsenhausen bei Berlin gebracht. Er kam nie wieder raus.
    Wir waren alle so jung damals. Sogar Fritz, der Große Fritz, der dablieb, als wir abhauten. Mit der Goldenen Sieben wurde es dann doch nichts, und es dauerte nicht lang, da musste er weg aus Berlin, damit er nicht verhaftet wurde nach allem, was passiert war. In Hamburg vermittelte ein Freund ihm einen Job als Musiker im Regina , einem schmierigen Bordell in St. Pauli. Die Huren dort warnten ihn jedes Mal, wenn die Gestapo auftauchte. Dann verzog er sich in den Keller und versteckte sich hinter irgendwelchen alten Fässern. Er überlebte dort sogar die Bombenangriffe. Nach dem Krieg irrte er obdachlos und total vereinsamt in der Gegend herum, bis er schließlich irgendwo in einem Wald verhungerte.
    Ob er es wohl bereut hatte, dass er nicht mit uns nach Paris gefahren war? Ich glaube schon. Er war kein Nazi, nur ein armer Kerl, der seine Haut retten wollte. Er tat mir leid.
    Und Delilah, meine schöne Lilah. Nachdem Hiero ge
schnappt worden war, reisten wir ab. Gut versteckt in ihren verschiedenen Koffern und Taschen nahm sie alle unsere Platten, alle Aufnahmen von den Auftritten der Hot-Time Swingers mit. Und den Half Blood Blues nähte sie in eine Geheimtasche in ihrem Mantel ein. Wir waren gerade mal eine Stunde in Marseille, da nahm so ein Scheißkerl vom Vichy-Regime ihr alle Platten ab, auch die mit dem Half Blood . Mann, das war wirklich schlimm. Klar, es war für uns alle ein harter Schlag, aber in ihren Augen sah man, dass sie nie darüber wegkommen würde. Niemand kann genau sagen, wie dieser Schmerz sich in ihrem Leben ausgewirkt hat. Nachdem sich unsere Wege im Hafen von New York getrennt hatten, habe ich nie wieder ein Wort mit ihr gesprochen. Sie gab mir einen kalten Abschiedskuss, dann fuhr sie nach Montreal und verschwand aus meinem Leben. Nach einiger Zeit hörte ich, dass sie geheiratet hatte, und zwei Jahre später dann, dass sie tot war. Offenbar ist es schnell gegangen. Leukämie. Ihr Mann sagte, sie ist ganz friedlich gestorben. Wenigstens das.
    Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass ich nie darüber hinweggekommen bin. Es hat sich in meinem Hirn eingebrannt, ein dunkler Schatten, der nie ganz aus meinen Gedanken verschwunden ist.
    Chip bog auf einen schmalen, mit Gras bewachsenen Pfad ab.

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