Spiels noch einmal
ist es fertig.«
Ich beobachtete sein Gesicht, während er redete. Ich suchte nach einem Zeichen von Bitterkeit, Resignation, nach irgendetwas, das mir verriet, wie es zwischen uns stand nach all den Jahren. Aber da war nichts, nur reine Freude. Der arme Kerl hatte keine Ahnung davon, was damals passiert war.
Wir gingen hinein. Die Glühbirne war durchgebrannt und nie ersetzt worden, darum gab es nur das Licht, das durch die Tür einfiel. Im Halbdunkel sah ich Dutzende von seltsamen Gestalten. Und als ich all diese riesigen Statuen anstarrte, diese übergroßen kaputten Gesichter, die grotesken Körper, kam mir der Gedanke, dass er es vielleicht doch irgendwie erraten hatte. Vielleicht hatte er es immer schon gewusst
und sich all die Jahrzehnte lang bemüht, damit fertig zu werden.
»Sid«, rief Chip, »die da sieht aus wie du.«
Schlurfend ging ich zu ihm hinüber.
Es war eine große magere Gestalt mit einem schmalen Gesicht. Sie klammerte sich schutzsuchend an etwas Bauchiges, das ich zuerst für eine hochschwangere Frau hielt, aber dann erkannte ich plötzlich, was es wirklich war – ein Kontrabass.
»Finde ich nicht«, sagte ich.
Ich sah Hiero an, und da war mir auf einmal glasklar, dass er nicht wusste, was ich ihm damals angetan hatte. Ich starrte wieder die Statue an.
»Er ist blind, und du bist jetzt taub, oder was?«, sagte Chip.
»Was?«
»Hiero hat dich gerade gefragt, ob du was essen willst.«
Hiero lächelte, aber seine Lippen blieben geschlossen. »Bitte. Ich heiße jetzt Thomas.«
»Thomas.« Chip warf mir einen Blick zu. »Entschuldigung.«
Der Junge richtete seine blinden Augen auf mich. »Sid? Hast du Hunger?«
»Ich könnte schon was vertragen«, sagte ich.
Es gab saure Heringe und Salat und als Nachtisch im Laden gekaufte klebrige Kekse.
»Tut mir leid, dass ich euch nichts Besseres anzubieten habe als das hier.« Hiero vollführte eine schwungvolle Geste mit seinem Messer. »Aber ich habe sonst nichts mehr im Haus. Ewa, meine Haushaltshilfe, ist zweimal in der Woche da, bringt mir frische Lebensmittel, putzt meine Wohnung. Morgen kommt sie wieder. Im Großen und Ganzen kann
ich ganz gut für mich selber sorgen, aber für ein paar Sachen brauche ich doch jemanden, der mir hilft.«
Chip und ich schauten einander an, und dann schauten wir betreten weg. Na ja, wir hätten eigentlich gern gefragt, wie das mit seinen Augen passiert war und überhaupt, wie er das KZ überlebt hatte und was dann passiert war, wie es ihn in den Osten verschlagen, warum er sich Thomas nannte, alle diese Dinge eben. Aber Hiero machte keine Anstalten, irgendwas davon zu erzählen. Er plauderte witzig und gut gelaunt über alles Mögliche, bloß über seine Vergangenheit sagte er kein Wort.
Nach dem Essen brachte er drei Gläser und eine Flasche Scotch.
»Die hab ich für eine besondere Gelegenheit aufgehoben«, sagte er. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht, ob ich es überhaupt noch erlebe.«
Chip schmunzelte. »Mann, jetzt ist es so weit. Schenk ein.«
Die Dämmerung kam, aber Hiero schaltete kein Licht an. Wir sagten nichts, saßen einfach so da in dem schummrigen Licht.
Irgendwann räusperte sich Chip. »Ich will dich zu nichts überreden, Mann. Ich meine, ich hab schon daran gedacht . Ich hab mir vorgestellt, ich komme her, nehm dich mit in die Staaten und bring dich so groß raus, wie du es verdient hast. Das ist doch eine Riesenstory. Aber ich will dich zu nichts drängen.«
Was bin ich für ein Idiot, dachte ich, total blind. Denn plötzlich verstand ich, warum Chip so wild darauf gewesen war, hierher zu fahren. Ich schüttelte den Kopf.
»Du bist schon dabei, mich zu drängen.« Hiero lächelte
sanft. »Aber das nutzt nichts, Chip. Das alles gehört zu einem ganz anderen Leben.«
Chip schenkte sich noch einen ein. »Du meinst, du hast es nicht mehr drauf? Im Ernst?«
»Das ist doch ganz egal«, sagte Hiero. »Du bist berühmt, Chip. Du brauchst mich überhaupt nicht.«
Chip schaute eine Weile trübe vor sich hin, dann sagte er: »Ist das der Grund, warum du jahrelang nicht geschrieben hast? Weil du dachtest, ich würde versuchen, dich zurückzuholen?«
Hiero zuckte die Achseln.
»Und du vermisst es nicht? Wirklich?«
»Nein.«
»Aber man braucht doch was, für das man lebt, einen Sinn .«
»Der Sinn des Lebens liegt nicht darin, was einer macht, Chip.«
»Nicht?«
Hiero drehte sich zu mir um. »Frag Sid. Er hat es aufgegeben.«
Ich zuckte die Achseln und schwieg.
»Sid?«, sagte
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