Spiels noch einmal
hörte ihre Absätze draußen klappern. Offenbar ging sie zu anderen Wohnungen in unserem Stockwerk und schaute dort unter die Fußabstreifer. Dann hörte ich sie die Treppe hinunter und über den Hof hasten. Scheiße.
»Sid«, sagte Hiero leise. »Sid?«
»Ja, ich bin da. Alles okay? Reg dich nicht auf, Lilah sind nur die Nerven durchgegangen.«
»Die dürfen mich nicht mitnehmen.« Seine Stimme klang plötzlich ganz klar. »Du passt auf mich auf, nicht?«
»Klar«, murmelte ich. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
Die Haustür schlug zu. Ich fuhr herum. Im Flur stand Delilah, ganz außer Atem. Sie musterte uns beide mit diesem unheimlichen Blick.
»Was ist los, Sid?«, fragte sie leise. Sie räusperte sich, kam näher und lehnte sich an den Türrahmen. »Lüg mich nicht an. Du hast Hieros Visa wirklich nicht?«
»Ich hab’s dir doch schon gesagt. Ich hab nichts.«
»Und du hast auch kein Klopfen gehört?«
Ich verzog nur genervt das Gesicht.
»Und warum bist du dann nicht mitgegangen, um bei den anderen Wohnungen nachzusehen?«
Ich spürte, wie ich rot wurde. »Woher weißt du denn, dass dieser verdammte Junge dich nicht angelogen hat? Was weißt du denn schon groß von dem?«
»Er ist der Neffe von einem meiner Bekannten«, sagte sie kalt. »Er hat nicht gelogen. Was ist hier los, Sid?«
Ich breitete die Arme aus. »Lilah, verdammt. Vielleicht hat sie jemand geklaut. In diesen Zeiten muss man mit allem rechnen. Sogar Ernsts Auto hat jemand mitgehen lassen, obwohl es nicht mal Benzin gibt. Der Junge hätte die Sachen nie so einfach da rumliegen lassen dürfen, wo sie jeder einstecken kann.«
»Im ganzen Haus wohnt doch niemand mehr, Sid, außer uns. Wer hätte die Papiere stehlen können?«
Ich musterte sie in dem dämmrigen Licht. Ihre klugen grünen Augen durchbohrten mich. Es war still, nur Hieros Atem war zu hören. Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Was willst du damit sagen?«
Delilahs Gesicht wirkte streng. Leise sagte sie: »Wenn du ihm irgendwas zuleide tust, wirst du es büßen, das schwör ich dir.«
Mich überlief es kalt, als ich das hörte.
Dann war sie weg, die Wohnungstür fiel ins Schloss. Ich hörte ihre Absätze auf der Treppe klacken. Als ich mich umdrehte, sah mich Hiero mit feuchten Augen an.
»Alles in Ordnung mit dir, Junge?«, fragte ich.
»Geh nicht weg, Sid«, sagte er. Er fing an zu weinen. »Sid, geh nicht weg.«
Ich nahm ein Tuch und wischte ihm den Schweiß von der heißen Stirn.
»Ich lass nicht zu, dass dir was passiert«, sagte ich. »Hörst du, Junge? Du bist wie ein Bruder für mich. Niemand wird dir was tun. Wir passen gut auf dich auf.«
Gedämpftes Junilicht drang durch die Vorhänge, die Straßen draußen waren totenstill. Alles war ruhig und friedlich. Ich fuhr mit dem Tuch über seine Stirn. Er war eingewickelt in diese weißen Laken wie eine Leiche.
Ich fasste seine heiße Hand.
Sechster Teil: Polen 1992
Ich wachte auf. Die Helligkeit, die von den gelben Wänden des Busses gleißte, stach in meine Augen. Ich hielt Ausschau nach Chip, aber ich sah ihn nirgends. Die Tür stand offen, ich stolperte nach vorn, stieg die Stufen hinunter und hinaus in dieses seltsame weiße Licht.
»Chip?« Ich legte die Hand als Schirm über die Augen und spähte umher. »Wo bist du, Mann?« Meine Stimme kam zurück zu mir, sie klang unheimlich wie unter Wasser.
Jemand hatte meinen Koffer aus dem Gepäckfach geholt und neben dem Bus auf die Erde gestellt.
»Scheiße«, murmelte ich und blinzelte. »Diese verdammten Polen.«
Der Bus stand auf einem staubigen Parkplatz neben einer ungeteerten Straße. Drumherum ragten dicht und ernst dunkle Eichen und Lärchen auf. Es roch nach Rauch von einem Holzfeuer, die Luft war frisch und klar, alle Linien scharf. Das ganze Land, alle diese drögen Bäume wirkten völlig unberührt.
Ich rieb mir die steifen Beine, und da sah ich endlich Chip. Er stand vorn an der Straße, neben ihm aufgereiht seine schicken Koffer.
Ich ging zu ihm hin. »Wo sind wir hier?«, fragte ich. Meine Augen brannten. »Der Fahrer ist abgehauen, so wie’s aussieht.«
Chip zuckte die Achseln. »Er war schon weg, als ich aufgewacht bin. Wahrscheinlich ist er was essen gegangen.«
Ich schaute mich um. Nirgends ein Anzeichen, dass hier Menschen wohnten.
Aber dann wies Chip mit einem leichten Kopfnicken zum Wald auf der anderen Seite der Straße. Sonderbar verschleiert von all dem Licht konnte ich da zwischen den Bäumen ein graues Dach
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