Spieltage
Schmelzers Gedanken wandern zu ihm zurück. »Wenn ich überlege, wo ist für den Heinz das Leben schiefgelaufen, dann komme ich an den Punkt: Der Heinz war zu begabt. Er war blitzgescheit, hat phantastisch ausgesehen, konnte als Fußballer und Trainer einfach alles, ohne sich anzustrengen. Dem ist das Leben zu leicht gelaufen. Da kommt man wahrscheinlich auf dumme Ideen.«
In seinem Zimmer in der Wohnung in der Rudolphstraße, das sich Heinz Höher mit den vierzig Jahre alten Möbeln aus Bochum eingerichtet hat, breitet er ein Betttuch auf dem Boden aus.
»Was machst du denn jetzt schon wieder?«, fragt Doris und ruft: »Oh Gott!«, als sie erkennt, was er treibt. 50 Jahre Bundesliga sind für sie und Heinz Höher auch exakt 50 gemeinsame Jahre. Sie hat sich dabei »eine innere Verdrängungsschublade« zugelegt, wie sie sagt. »Und die ist schon ziemlich voll.«
Heinz Höher lässt sich nicht beirren. Mit schwarzen und roten Eddingstiften beschriftet er weiter das Bettlaken. Er wird, mit 74, in eine neue Rolle im deutschen Profifußball schlüpfen: zum ersten Mal Fan.
Er hat lange überlegt, was er alles tun kann, um Juri in Leipzig zu unterstützen. Für ihn ist klar, Juri muss mit Red Bull von der vierten Liga in die Bundesliga durchmarschieren. Wenn das gelingen soll, wenn Juri über den im modernen Fußball ewig langen Zeitraum von vier, fünf Jahren in der Elf unentbehrlich bleiben will, müsste er in Leipzig über das Sportliche hinaus eine Identifikationsfigur werden. Also braucht er erst einmal einen persönlichen Fanklub, denkt sich Heinz Höher. Er fährt nach Langwasser, wo er noch ein paar Russlanddeutsche kennt, mit denen Juri einst Fußballtennis hinter dem Haus spielte. Er offeriert ihnen kostenlose Fahrt und freien Eintritt zum ersten Saisonspiel von RB Leipzig am 12. August 2012. Falls Juri dann Jahre später mit Red Bull tatsächlich in die Bundesliga aufstiege, würde jedes Mitglied des ersten Fanklubs von Heinz Höher eine Prämie von 1000 Euro erhalten. Sieben Russlanddeutsche aus Langwasser finden sich für die Sonntagsfahrt nach Leipzig ein. Heinz Höher mietet einen Kleinbus, spannt den Schwiegersohn als Chauffeur ein und beschriftet ein Betttuch, damit der Fanklub etwas zu schwenken hat.
Juri weiß nichts von der Aktion. Es soll doch eine Überraschung sein. Außerdem findet Heinz Höher, wisse er schon am besten, was gut für den Jungen ist.
In Juris Küche in Leipzig stapeln sich die Dosen Red-Bull-Energydrinks. Sie haben vom Verein einen speziellen Kühlschrank für die Red-Bull-Getränke erhalten, aber er erweist sich als zu klein. So viele Dosen bekommen die Spieler jeden Monat geschenkt. Juri kommt mit dem Trinken nicht hinterher.
Er hat eine Dreizimmerwohnung in einer umgebauten sowjetischen Kaserne angemietet. Er wollte mit seiner Frau und der Tochter einziehen, aber nun steht das Kinderzimmer leer. Sie haben in Leipzig keinen Kindergartenplatz gefunden, eine besonders krude Ironie in Anbetracht der Tatsache, dass seine Frau Kindergärtnerin ist. Nun leben die Frau und die Tochter weiter in Nürnberg. Die Muskeln verziehen den Mund nach unten, wenn Juri über die Trennung spricht, die der Fußball ihm auferlegt. Aber schnell schiebt er hinterher: »Ich habe noch Glück gehabt, dass ich relativ nah an Nürnberg einen Verein gefunden habe. Ich bin zufrieden.«
Er verwendet das Wort Zufriedenheit sehr häufig, wie jemand, der sich gelegentlich noch selbst ermahnen muss, den Begriff nicht zu vergessen. Aber es ist nicht zu verkennen, dass Juri Judt eine Art Frieden in seinem Beruf wiedergefunden hat.
Er muss auch für Leipzig Außenverteidiger spielen statt im defensiven Mittelfeld, einmal muss er auch in der vierten Liga für ein paar Spiele auf die Ersatzbank, zunächst ist er irritiert, doch er versucht, das gesamte Bild nicht aus den Augen zu verlieren. Er ist in der Mannschaft als Fußballer und Kollege angesehen. Mit 26 – die Zeitungen schreiben immer: im besten Fußballalter – beginnt er in Leipzig eine zweite Fußballkarriere; moderne Fußballer haben zwangsweise viele Leben. Juri Judt denkt nicht wie Heinz Höher, dass er es unbedingt wieder bis in die Bundesliga zurückschaffen muss, es ist ein Ziel, ein Traum, natürlich, aber er hat gelernt, statt abstrakten Zielen nachzujagen, lieber den Moment zu genießen. Es gibt so wenig vollkommen glückliche Augenblicke im modernen Profifußball.
Mit Rasenballsport Leipzig gewinnt er fast immer. Sie sind ein klein wenig
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