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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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des alten vom Tisch, zieht den Figuren das vertraute Brett unter den Füßen weg und ersetzt es durch ein neues, auf dem andere Regeln gelten. Ich stelle mir vor, wie Ada mich eines Tages den Läufen eines Erschießungskommandos entreißen wird: Lasst sie, die nicht! Das ist die kalte Sophie, die hat damals schon geahnt, wie seltsam es ist, nach allen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts die Entscheidung über Recht und Unrecht ausgerechnet in die Hände von Staaten zu legen. Gebt sie frei. Ada, die immer behauptet hat, kein Gedächtnis zu besitzen, wird sich an mich erinnern.
    Ohne Mühe kann ich mir vorstellen, wie sie in Smuteks Volvo durch den nachlassenden Regen fahren, wie sie den ersten Tag in Wien verschlafen und in der darauf folgenden Nacht die Straßen und Gebäude nach den Inhalten eines Romans befragen. Wie sie an einem Vormittag die slowenische Grenze überqueren. Ich sehe sie inmitten der geschundenen Landschaften Bosnien-Herzegowinas, umgeben von zerrissenen Häusern und abgeknickten Türmen, und ich sehe mit ihnen gemeinsam das türkisfarbene Meer hinter dem Karst der kroatischen Küste auftauchen. Ich höre sie schweigen, ich höre sie sprechen. Die Wasserlandschaft ist uneben, blaugrüne Wellenfelder, die der Wind bestellt. Jede der Zypressen hat eine große Schraube als Fuß, mit der sie in der steilen Felswand verankert ist. Die Zikaden konzertieren auf Waschbrettern und singenden Sägen, ein profunder Lärm, eng aufeinander Schicht bei Schicht, dass man sich mit den Armen rudernd vorwärts bewegen will.
    Und überall der Geruch von Sonnenschein. Ein paar emsige Böen rennen umher, um ihn gleichmäßig zu verteilen. Es gibt genug tote Maler im Himmel, die täglich einen neuen Sonnenuntergang entwerfen, Farbgebäude, gemalt in Licht auf Luft. Ada und Smutek betrachten das Schauspiel im Auto sitzend, die Schönheit macht sie stumm und das Schweigen einsam. Die Einsamkeit öffnet Augen und Ohren für noch mehr Schönheit, und so sind sie erleichtert, als Dunkelheit fällt. Plötzlich sitzen Meer und Land trotzig beisammen und kehren einander den Rücken. Vom Schweigen sind die Münder trocken. Wie haben sie sich das gedacht? Wer sagt was zu wem und wann? Es ist spät, sie haben Hunger und keine Landeswährung. Das ist ihre Rettung.
    »Es ist spät«, sagt Smutek. »Wir haben Hunger und keine Landeswährung.«
    Ada lächelt erfreut, auch sie hat das kleine Wunder begriffen. Es geht. Alles geht. Sie müssen sich nur ums Überleben kümmern, um Essen und Schlafen, um Kleinigkeiten, die sie beide betreffen oder nur einen von ihnen, Miniaturaufgaben, die nebeneinander und gleichzeitig bewältigt werden wollen. Das Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit werden nicht davon abhängen, ob sie eine Entscheidung getroffen haben. Sie atmen tief und erleichtert. Für heute verzichten sie auf bescheidene Zimmer in einer kleinen Pension, sie verzichten auf Vernunft und Einteilung der Mittel. Sie werden ein großes Hotel ansteuern und sich sofort ins Restaurant setzen, zwei Platten Tintenfische bestellen, lignje na zaru, und eine Flasche Sekt. Das Übrige wird sich zeigen. Es wird sich mit Sicherheit zeigen. Ich gehe ins Gefängnis. Du begibst dich direkt dorthin. Er, sie, es geht nicht über Los. Wir haben nichts gewusst. Ihr zieht nicht viertausend Mark ein. Sie werden schon sehen.
    Es geht doch immer nur darum, dass eine, dass die Geschichte sich selbst erzählen kann. Wir alle sind nicht mehr als leise Stimmen im kakophonen Chor, gelegentlich ein vorwitziges Solo spielend, nie mehr als wenige Sekunden, wenige Zeilen lang.
    Und hiermit ist alles gesagt.
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