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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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protokolliert, entartet, wenn der Lehrer durch seine Angst vor Entdeckung zum Weitermachen angehalten wird. Am Rande gesagt, die Angst vor Entdeckung, die den Lehrer vorangetrieben hat, ist die Angst vor dem Schäferhund, der, wie der Lehrer richtig voraussah, jetzt kurz vor dem Zubeißen steht.
    Ich breche keine Lanze für die Anarchie. Ich schildere ihnen nur die spezielle Müdigkeit, die jeden befällt, der sich anhören muss, was gut und böse, richtig und falsch sei, obwohl niemand mehr die Grundlagen dieser Unterscheidung zu erklären oder auch nur zu benennen vermag. Moral dient der Herbeiführung von Berechenbarkeit. Der Mensch ist, ich wiederhole es noch einmal, am berechenbarsten, wenn er pragmatisch handelt. Wenn er spielt. Warum behandeln Sie einen Täter mit Milde, der, Ihnen zur Freude, sein Unrechtsbewusstsein beweist und behauptet, sich zu schämen und seine Tat zu bereuen? Wir alle wissen, dass allein die Angst vor Strafe dem geständigen Täter das Wasser aus den Augenwinkeln treibt. Warum belohnen Sie nicht jenen, der sich aufrichtet und sagt: Ich weiß, was ich getan habe, und ich weiß, warum!?
    In diesem Übergangszustand, in einer regellosen, verwirrten und unübersichtlichen Welt gibt es nichts Gefährlicheres als Lüge und Heuchelei - und nichts Anerkennenswerteres als Ehrlichkeit. Warum belohnen Sie nicht diese beiden Angeklagten, die im Lichte all dessen, was ich Ihnen erklärte, bescheiden schweigen? Sie sind die Vernünftigen. Sie sind berechenbar und damit, in fremden Worten gesprochen, moralisch einwandfrei. Seit wir den Glauben und damit die Wahrheit verloren haben, liegt zwischen Heuchelei und Ehrlichkeit der letzte Unterschied, der uns bleibt. Es wäre Großes vollbracht, wenn Sie als eine Vertreterin des Rechts sich daranmachten, diesen Unterschied zu retten.
    Wäre ich ein Anwalt für einen von uns dreien oder gar für eine ganze Epoche, ich würde enden mit dem Ausruf: Sprechen Sie frei! - Ich bin kein Anwalt. Ich bin nicht beruflich zur Hoffnung verpflichtet. Mein Aufruf lautet: Tun Sie, was Sie wollen! Aber tun Sie es mit offenen Augen. Seien Sie sich darüber im Klaren, dass Sie mit abgewandtem Gesicht über Menschen urteilen, die ebenfalls die Gesichter abgewandt halten. Denken Sie daran, dass unser Rechtssystem wie ein Kopf vom Rumpf des Gemeinwesens abgetrennt wurde, dass der Leib irgendwo herumliegt und stinkt, dass wir mit zugeklemmten Nasen zueinander sprechen und dass niemand hier noch in der Lage ist, dem abgeschnittenen Haupt ins Gesicht zu schauen. Verurteilen Sie einen von uns oder uns alle, aber tun Sie es in Kenntnis und Ehrlichkeit.
    Vielen Dank.«
    Sieg und Frieden
    A da schob ihre Karteikarten zusammen und ging gemäß Paragraph 61, Nummer 1 der Strafprozessordnung unvereidigt nach Hause, weil sie das sechzehnte Lebensjahr erst vor zwei Wochen vollendet hatte. Sie hatte die Vorkommnisse detailliert geschildert, manches weggelassen, wenig hinzuerfunden und im Ganzen ein so vollständiges Bild der Ereignisse gezeichnet, dass Staatsanwalt und Verteidiger, als sie das Wort erhielten, nur ein paar lasche Fragen zu stellen wussten. Eins war vollkommen klar geworden: Außer Alev konnte niemand etwas dafür. Fast zwei Stunden waren vergangen. Ada verzichtete auf Fahrkostenerstattung und verließ den Saal mit gesenktem Kopf.
    Während der folgenden Teile der Verhandlung, weiterer Zeugenvernehmungen, Befragung des Sachverständigen, Anhörung der Jugendgerichtshilfe und abschließender Plädoyers machte die kalte Sophie einen abwesenden Eindruck. Das Gefühl, diesen Fall nicht entscheiden zu können, hatte sich zur Gewissheit verdichtet. Alle Anwesenden hatten begonnen, aus ihren Rollen zu rutschen wie schlecht verschraubte Maschinenteile aus ihren Halterungen. Das Amt der Richterin verlor an Kontur, die Robe wurde zur Maskerade, das Pult zum unbequemen Aufenthaltsort im Vergleich zu jedem beliebigen Café, in dem sich Probleme wie diese bei einem Glas Wein erheblich besser diskutieren ließen. Smutek und Alev hätten ebenso gut zu Zeugen getaugt wie Ada zur Angeklagten, sie waren Menschen unter anderen Menschen, die sich über etwas unterhielten, das erstens vorbei war, zweitens niemanden außer den Beteiligten etwas anzugehen schien und drittens auf so seltsamen Motiven beruhte, dass sich das rechtliche Instrumentarium in den Händen der kalten Sophie anfühlte wie Hammer und Meißel beim Versuch, eine Homepage zu bauen. Das Gefühl, das die Richterin befallen hatte,

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