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Spieltrieb: Roman

Spieltrieb: Roman

Titel: Spieltrieb: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gegenüber Radfahren, Joggern, Inline-Skatern und Hundebesitzern spüren zu lassen. Ich könnte zu den verlassenen Botschafterresidenzen hinaufsehen, die ihrerseits aus leeren Fenstern über den Fluss schauen. Ich könnte die Villa Kahn besuchen, die verspielt ein französisches Schloss kopiert, oder das Gelände einer der zahlreichen Bonner Internatsschulen umrunden, deren Grundstück, vollgestellt mit Gründerzeitbauten und ausgepolstert mit einem Park, bis fast ans Wasser reicht. Täglich könnte ich diese Orte ohne Mühe aufsuchen, und es gäbe doch nichts zu sehen. Stattdessen schaue ich aus dem Fenster.
    Haus und Straße werden durch einen geräumigen Vorgarten voneinander getrennt, dessen schmiedeeisernes Gitter ganz zugewachsen ist vom Rhododendron, der seine fleischigen Blätter wie Gefangenenfinger durch die Stäbe streckt, um den Passanten bettelnd auf die Schultern zu fassen. Über die Spitzen des Gitterzauns hinweg sehe ich auf die Fahrbahn und warte darauf, dass etwas aus der Reihe springen möge, seitwärts rutschen, die Fahrtrichtung verlassen, sich drehen. Ein schwerer, abrupt gebremster Lastwagen zum Beispiel, der dann mit schrägem Leib zum Stehen käme, ein Rad auf dem Bordstein, dicht vor einer Laterne, als wollte er das Hinterbein heben, während sich vor seiner Schnauze eine dunkle Wolke Fußgänger wie Fliegen versammelte. Etwas läge reglos und unförmig auf dem Asphalt. Ein Haufen alter Mäntel vielleicht, die nicht mehr in den Altkleidercontainer gepasst haben? Auch ohne genaues Hinsehen wüsste ich es besser. Das Herannahen der Rettungssirene machte den Vorfall zu einem technischen Problem. Mit schnellen Stichen vernähte kreisendes Blaulicht das Loch in der Ordnung, aufgerissen durch das außerplanmäßige Versterben eines Artgenossen; ein Loch, über das die aufgelaufene Menschenmenge sich beugte, um einen entsetzten Blick in das darunter liegende Chaos zu werfen. Die Menge würde zurückgedrängt. Die Heckklappe des Rettungswagens schlüge zu. Der Tag ruckte, stöhnte und setzte sich von neuem in Bewegung. Ein Mensch würde fehlen, für immer. Vielleicht einer meiner Angeklagten. Vielleicht meine Zeugin. Einer meiner drei fast Freigesprochenen. Aber ich bin sicher, sie alle halten sich nicht in der Stadt auf, nicht einmal im Land. Zwischen den Instanzen unternimmt man gern einen Ausflug.
    Die Staatsanwaltschaft hat Rechtsmittel eingelegt. Mein Urteil wird aufsteigen zu den höheren Instanzen. Dieser Fall sollte es bis nach Karlsruhe schaffen. Er enthält die Aufforderung, das Versagen des Rechts offiziell zur Kenntnis zu nehmen, weil die Würde des Menschen es verlangt. Über dem Bundesverfassungsgericht, sagen wir Juristen, sei nur noch der blaue Himmel.
    Der blaue Himmel ist zum farbigen Pappdeckel einer Spielesammlung geworden. Wenn das alles ein Spiel ist, sind wir verloren. Wenn nicht - erst recht.
    Von Prinzessinnen und Marionetten und der Möglichkeit, sich mit wenigen Worten Respekt zu verschaffen
    A da war ein junges Mädchen und nicht schön. In jenem Augenblick, den der Scheinwerfer dieser Erzählung ins Licht taucht, war sie vierzehn Jahre alt, blond und kräftig gebaut. Ihr Mund war breit, die Handgelenke stark. Über der Nase lag ein löchriger Teppich aus Sommersprossen und wusste bei passender Beleuchtung ein paar Notlügen von gepflückten Wildblumen und Kinderspielen im hohen Gras an den Mann zu bringen. In Wahrheit sah Ada älter aus, als sie war. Ihre Brust war stark entwickelt.
    Im Sommer 2002 wurde sie in die zehnte Klasse des Ernst-Bloch-Gymnasiums zu Bonn eingeschult, nachdem sie aus einem Grund, der sich in Kürze im Rahmen einer musikalischen Rückblende offenbaren wird, ihre alte Schule hatte verlassen müssen. Auf Ernst-Bloch erregte sie zu Anfang wenig Aufmerksamkeit.
    In allen Klassen ab der siebenten gab es samt- und seidenweiche Mädchen, deren Geburt durch langsam anschwellende Musik begleitet worden war wie das hochfahrende Windowsbetriebssystem von seiner Begrüßungsouvertüre. Sie kamen als Miniaturprinzessinnen zur Welt, erreichten bereits in der Unterstufe das erste, fohlenhafte Stadium der Vollendung und wuchsen gleichmäßig in die Frau hinein, die sie einmal werden sollten. Ihre Entwicklung vollzog sich routiniert und fehlerlos, als hätten sie die Aufgabe des Älterwerdens schon etliche Male zuvor bewältigt. Jene Pubertätsprofis unterschieden sich auf den ersten Blick von den Dilettanten. Sie hatten das gepflegte, schulterlange Haar

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