Spielwiese: Peter Nachtigalls siebter Fall
vorbereitete Gefäße, die der Kollege sorgfältig verschloss und beschriftete.
»Wirklich weiterhelfen wird uns die Endoprothese. Also sehen wir uns die jetzt mal genauer an«, entschied Dr. Pankratz und inspizierte gründlich die Narbe über dem Gelenk. »Lange Zeit zum Heilen hatte die Wunde nicht. Die Narbe ist frisch. Etwa zwei bis drei Wochen nach der OP wurde er getötet.« Er begann, das Gewebe zu präparieren. »Hier sind noch Reste des blauen Nahtmaterials. Ihr Zustand bestätigt meine Annahme. Länger als drei Wochen war die Operation noch nicht her.« Fadenmaterial wanderte in ein Röhrchen und wurde markiert. »Schauen wir mal, was für ein Gelenk er da hat.« Der Rechtsmediziner griff nach einem Meißel und löste die Endoprothese aus dem Oberschenkelknochen. Es knirschte laut, als er den Zement entfernte. Nachtigall bekam eine Gänsehaut. Selbst die Haare im Nacken stellten sich auf.
»Ach nee. Sieh mal!« Er hielt dem Hauptkommissar ein Teil aus Edelstahl entgegen, an dessen Oberseite ein langer mittlerer und vier kürzere Dornen auf einer Grundplatte zu sehen waren. »In dem langen mittleren verschwindet das Gegenstück. Und dieses Gelenk ist von AlloPro. Die hatten ihren Sitz in Gelsenkirchen und haben von dort aus fast die gesamte DDR mit ihren Prothesen beliefert.« Er zeigte auf eine Nummer. »Dies ist die eingravierte Seriennummer. Die Firma kann nun im Computer nachsehen, wann sie dieses Gelenk ausgeliefert hat und an welches Klinikum. Mit der Seriennummer sucht daraufhin ein Arzt – in diesem Fall sicher der Abteilung Orthopädie – in den OP-Büchern nach dem Empfänger. Und schon weißt du, wer dieses Gelenk wann bekommen hat und sogar von wem er operiert wurde.«
»Wie lange dauert das?«
»Eine Woche etwa. Aber ich glaube, das kann ich beschleunigen. Ich kenne nämlich einen der Mitarbeiter dort; ein ehemaliger Studienkollege. Ich rufe ihn an und wir sehen weiter. Seltsam ist nur, dass AlloPro auf der Prothese steht. Die Firma gehört inzwischen zur Zimmer-Gruppe mit Sitz in Winterthur. Na ja, früher wurden Gelenke auch eingelagert. Heute wird eine Klinik just in time beliefert und muss sich die teuren Teile nicht hinlegen. Sehr eigenartig.« Er zog sich die Handschuhe aus, notierte die Seriennummer und verschwand in einem Nebenraum.
Peter Nachtigall bemerkte, wie der zweite Rechtsmediziner ihm zuzwinkerte.
»Der Tod ist kein schöner Anblick. Aber dies ist eine Arbeit, die unbedingt gemacht werden muss. Wir können doch nicht zulassen, dass Mörder ungeschoren davonkommen und unbehelligt unter uns leben, nur weil niemand die Tat entdeckt hat! Zum Glück sieht das inzwischen auch die Politik ein. Es soll einen speziellen Ausbildungsgang für Ärzte geben, die dann die Leichenschau durchführen. Damit kann man sicherstellen, dass jemand zu einem Todesopfer gerufen wird, der auch genau weiß, worauf zu achten ist und die Hausärzte werden entlastet, weil sie nicht mehr im Beisein von Familienangehörigen, die sie womöglich seit Jahrzehnten kennen, den Verdacht auf eine unnatürliche Todesursache aussprechen müssen. Mit Sicherheit wird es bald mehr Obduktionen geben, als im Moment üblich.«
Der Hauptkommissar nickte vage.
Er erinnerte sich mit Unbehagen an das Gespräch mit dem Augenarzt am Fundort des Opfers, der unumwunden eingeräumt hatte, einen Lebenden nicht von einem Toten unterscheiden zu können.
Dr. Pankratz war schnell wieder zurück. »1988 wurde diese Endoprothese nach Cottbus geliefert. Das bedeutet nicht, dass man sie dort auch sofort verwendet hat. Aber zeitnah wahrscheinlich schon.« In der Hand hielt er einen Computerausdruck. »Hier steht es.«
»Zeitnah? Vor der Wende noch?« Entgeistert sah Nachtigall den Rechtsmediziner an. »Soll das heißen, er war zur Wende schon tot? Eingefroren?«, schob er nach und ärgerte sich über den schrillen Diskant. Schließlich mussten nicht alle hören, wie entsetzt er war, es reichte schon, dass man es ihm ansehen konnte. »Seit 20 Jahren tot und plötzlich taucht er wieder auf?«
»In der Orthopädie werden sie dir ganz genau sagen können, wann diese Prothese eingesetzt wurde. So wissen wir auch mit ziemlicher Sicherheit, wie lange er tiefgekühlt war. Und dort erfährst du auch, warum die OP nötig war. Sicher ist, dass er Rheuma hatte – aber das allein muss nicht der Grund gewesen sein.«
»Rheuma ist eine entzündliche Erkrankung, die im schlimmsten Fall die Gelenke zerstört«, ergänzte der Kollege.
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