Spin
überhaupt Kinder haben wollen. So schrecklich das klingt. Nichts gegen Buster natürlich. Ich liebe ihn von ganzem Herzen und hoffe, dass er ein langes und glückliches Leben haben wird. Aber man muss sich doch fragen: Wie stehen seine Chancen?«
»Die Menschen brauchen manchmal einen Grund, um zu hoffen«, sagte ich und fragte mich, ob es diese banale Weisheit gewesen war, die Giselle versucht hatte mir nahezubringen.
»Andererseits bekommen viele junge Leute keine Kinder, ich meine, mit voller Absicht nicht, sozusagen aus Rücksichtnahme. Sie sagen, das Beste, was man für ein Kind tun könne, sei, ihm all das Leid zu ersparen, das uns erwartet.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand weiß, was uns erwartet.«
»Na ja, Sie wissen schon: der Punkt, von dem aus es kein Zurück mehr gibt und alles…«
»Diesen Punkt haben wir bereits passiert. Aber wir sind noch da. Aus welchem Grund auch immer.«
Sie wölbte die Augenbrauen. »Sie glauben, es gibt Gründe, Dr. Dupree?«
Wir plauderten noch ein bisschen, dann sagte sie: »Ich muss versuchen, ein bisschen zu schlafen«, und stopfte das mickrige Kissen in die Lücke zwischen Nacken und Kopfstütze. Jenseits des Fensters, halb verdeckt von dem gleichgültigen Russen, war die Sonne untergegangen, der Himmel rußschwarz geworden; es war nichts zu sehen außer der sich spiegelnden Deckenleuchte, die ich jetzt etwas dämpfte und auf meine Knie richtete.
Dummerweise befand sich mein gesamter Lesestoff in meinem Koffer. Aber im Sitz vor Sarah steckte eine Zeitschrift, also langte ich hinüber und schnappte sie mir. Die Zeitschrift, die ein schlicht weißes Titelblatt hatte, hieß Gateway, eine religiöse Publikation, vermutlich von einem früheren Fluggast zurückgelassen.
Ich blätterte darin und musste, unvermeidlich, an Diane denken. In den Jahren nach dem fehlgeschlagenen Angriff auf die Spin-Artefakte war die New-Kingdom-Bewegung mehr oder weniger zerbröselt – ihre Begründer verleugneten sie und ihr glücklicher Sexualkommunismus verpuffte unter dem Druck von Geschlechtskrankheiten und menschlicher Habgier. Heute wollte sich niemand mehr, schon gar nicht die Avantgarde der trendbewussten Religiosität, schlicht als »NKler« bezeichnen. Man gehörte den Hektorianern, den Preteristen (der radikalen oder gemäßigten Fraktion) oder den Wiederaufbauern des Königreichs an – nie aber einfach dem »Neuen Königreich«. Die Ekstasis-Veranstaltungen, die Diane und Simon in jenem Sommer unserer Begegnung in den Berkshires besucht hatten, gab es nicht mehr.
Keine der verbleibenden NK-Fraktionen verfügte über eine nennenswerte Anhängerschaft und den entsprechenden Einfluss. Die Southern Baptist Convention allein hatte mehr Mitglieder als sämtliche Kingdom-Sekten zusammen. Aber ihre millenaristische Ausrichtung hatte der Bewegung ein unverhältnismäßig großes Gewicht in der durch den Spin ausgelösten religiösen Weltuntergangsstimmung verliehen. So war es auf NK zurückzuführen, dass so viele Plakatwände an den Straßen verkündeten, die TRÜBSALZEIT sei angebrochen, und dass viele der alteingesessenen Kirchen sich gezwungen sahen, die Frage der Apokalypse neu zu stellen.
Gateway schien das Presseorgan einer Wiederaufbau-Fraktion von der Westküste zu sein, gerichtet an eine breite Öffentlichkeit. Neben einem Leitartikel, der das unselige Wirken von Calvinisten und Presbyterianern anprangerte, enthielt die Ausgabe drei Seiten mit Rezepten und eine Filmkritikkolumne. Was aber meine Aufmerksamkeit erregte, war ein Artikel mit der Überschrift »Blutopfer und die Rote Färse« – eine Geschichte über ein rotes Kalb, das »in Erfüllung der Prophezeiung« erscheinen und auf dem Tempelberg in Jerusalem geopfert werden würde; mit diesem Vorgang werde dann die Entrückung eingeleitet. Offenbar war der alte NK-Glaube, wonach der Spin ein Akt der Erlösung sei, aus der Mode geraten. »Denn wie ein Fallstrick wird er kommen / über alle die auf Erden wohnen«, Lukas 21:35. Ein Fallstrick, keine Erlösung. Lieber sich ein Tier zum Verbrennen suchen – die Trübsalzeit war wohl doch problematischer als erwartet.
Ich stopfte die Zeitschrift zurück in den Sitz, während das Flugzeug in Turbulenzen geriet. Sarah runzelte im Schlaf die Stirn, und der russische Geschäftsmann rief die Stewardess und bestellte sich einen Whisky Sour.
Das Auto, das ich am nächsten Morgen in Orlando mietete, wies zwei Einschusslöcher in der Beifahrertür auf, zwar
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