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Spin

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Titel: Spin Kostenlos Bücher Online Lesen
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pflegte er zu sagen, »zu beiden Seiten«, und wenn man dann in der gewünschten Kreuzhaltung dastand, fuhr er fort: »Vom linken Zeigefinger quer über dein Herz hinüber bis zum rechten Zeigefinger, das ist die Geschichte der Erde. Weißt du, was die menschliche Geschichte ist? Die Geschichte der Menschheit ist der Nagel auf deinem rechten Zeigefinger. Und nicht mal der ganze Nagel. Nur das kleine weiße Stück. Das Stück, das du abschneidest, wenn es zu lang wird. Das ist die Entdeckung des Feuers und die Erfindung der Schrift und Galileo und Newton und die Mondlandung und der 11. September und letzte Woche und heute Morgen. Gemessen an der Evolution sind wir Neugeborene. Gemessen an der Geologie existieren wir noch kaum.«)
    Dann verkündete die NASA-Stimme: »Zündung«, und Jason saugte Luft durch die Zähne ein und wandte den Kopf halb ab, als neun von zehn Trägerraketen – hohle, mit explosiver Flüssigkeit gefüllte Röhren, höher als das Empire State Building – entgegen aller Logik der Schwerkraft und Trägheit himmelwärts explodierten, Tonnen von Treibstoff verbrannten, um die ersten Zentimeter Höhe zu gewinnen, und Meerwasser verdampften, um einen Schallwirbel abzupuffern, der sie andernfalls in Stücke gesägt hätte. Und dann war es, als hätten sie sich Leitern aus Dampf und Rauch gebaut und erkletterten diese mit inzwischen deutlich wahrzunehmender Geschwindigkeit, während Feuerfedern die rotierenden Wolken überholten, die sie erzeugt hatten.
    Auf und davon, wie jeder andere erfolgreiche Start: schnell und lebhaft wie ein Traum, dann auf und davon.
    Die letzte Trägerrakete wurde von einem fehlerhaften Sensor aufgehalten und startete zehn Minuten später. Ihre Nutzlast würde nun den Mars erst tausend Jahre nach der übrigen Flotte erreichen, aber dies, wie gesagt, war bei der Planung einkalkuliert worden und konnte sich sogar als vorteilhaft erweisen – als eine Art Neuinjektion irdischer Technologie und irdischen Wissens, nachdem die digitalen und die auf Papier gedruckten Bücher der ursprünglichen Kolonisten längst zu Staub zerfallen waren.
     
    Augenblicke später schaltete die Videoübertragung nach Französisch-Guayana um, zum ehrwürdigen und vielfach ausgebauten Centre National d’Etudes Spatiales in Kourou, wo eine der großen Trägerraketen aus der Aerospatiale-Fabrik etwa dreißig Meter weit aufgestiegen war, dann den Anschub verloren hatte und in einem pilzförmigen Flammenmeer auf die Rampe zurückgekracht war.
    Zwölf Menschen fanden den Tod, zehn an Bord der NEP-Arche und zwei auf dem Boden, aber es war die einzige offensichtliche Katastrophe der gesamten Startreihe, und so konnte man, alles in allem genommen, wohl doch von einem glücklichen Ausgang sprechen.
     
    Freilich war das noch nicht das Ende der Übung. Bis Mitternacht – und dies schien mir der bislang deutlichste Indikator für die groteske Kluft zwischen terrestrischer und Spin-Zeit zu sein – würde die menschliche Zivilisation auf dem Mars entweder komplett untergegangen sein oder auf eine Geschichte von annähernd hunderttausend Jahren zurückblicken.
    Das war, grob gerechnet, die Zeitspanne zwischen der Entstehung des Homo sapiens als individueller Spezies und gestern Nachmittag.
    Es entschied sich also so allerlei, während ich von Perihelion zurück zu meinem gemieteten Heim fuhr. Ganze marsianische Dynastien stiegen auf und vergingen wieder, während ich darauf wartete, dass die Ampel umschaltete. Ich dachte an diese Existenzen – ganz und gar reale Menschenleben, jedes eingezwängt in eine Zeitspanne von weniger als einer Minute auf meiner Armbanduhr – und mir wurde ein wenig schwummrig. Das Spin-Schwindelgefühl. Oder vielleicht ging es auch tiefer.
     
    Ich sah die Ergebnisse, bevor sie öffentlich bekannt gemacht wurden.
    Es war eine Woche nach den Prometheus-Starts. Jason war für 10 Uhr 30 in der Praxis angemeldet, vorbehaltlich neuer Nachrichten aus Pasadena. Er sagte den Termin zwar nicht ab, erschien aber eine ganze Stunde später, eine Aktenmappe in der Hand und offensichtlich mit der Absicht, über etwas ganz anderes zu sprechen als seine Medikamente.
    »Ich weiß nicht, was ich der Presse sagen soll. Ich komme gerade aus einer Konferenz mit dem ESA-Direktor und ein paar chinesischen Bürokraten. Wir versuchen einen Entwurf für eine gemeinsame Erklärung der Staatsoberhäupter zu formulieren, aber kaum sind mal die Russen mit einer Wendung einverstanden, legen die Chinesen ihr Veto

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