Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
würden. Wir möchten gerne ein paar Worte mit Ihnen sprechen. Bitte folgen Sie uns.«
Die Männer brachten sie in eine Wohnung zwei Stockwerke tiefer. Dort waren zwei weitere Männer an Computern damit beschäftigt, irgendwelche Daten auszuwerten. Als Sarah und Paul in den Raum geführt wurden, stand einer von ihnen auf und ging zu einem kleinen runden Tisch in der Mitte des Zimmers, auf dem eine Thermoskanne mit Kaffee und ein Teller mit ein paar Schrippen standen.
»Kaffee?«, fragte er ohne jede weitere Einleitung und öffnete den Verschluss der Thermoskanne.
»Ja, gerne.« Sarah trat zu ihm an den Tisch. Paul folgte ihr. Erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage, genoss Sarah die ersten Schlucke des heißen Kaffees richtig. Sie wunderte sich, dass sie sich plötzlich so entspannt fühlte und wollte sich umdrehen, um nach einem Stuhl Ausschau zu halten. In diesem Moment verlor sie das Bewusstsein.
* * *
»Liebe Freunde, ich weiß, dass viele von euch denken: ‚Was hat uns der noch zu sagen?’ Ich kann das verstehen, wenn nicht ich, wer dann?« Christian Schneider ging in seinem Büro auf und ab und übte ein letztes Mal seine Rede für den Parteitag. In dreißig Minuten würde sein Fahrer ihn abholen, und um Punkt 14 Uhr würde er auf dem Podium im Velodrom einer aufgebrachten Versammlung von Delegierten und Parteimitgliedern gegenüberstehen.
Es brodelte an der Basis. Die Partei stand vor einer Spaltung. Man war angetreten, um für eine freie und tolerante Gesellschaft zu kämpfen. Und jetzt musste die Partei, getrieben von der nationalen und internationalen Sicherheitslage, ihre Zustimmung zu einer Verschärfung der Sicherheitsgesetze geben. Auf der Tagesordnung standen ein restriktiveres Einwanderungsgesetz und eine massive Erweiterung der Befugnisse von Polizei und Bundesgrenzschutz. Die fundamental orientierten Parteimitglieder an der Basis lehnten jegliche Kompromissbereitschaft ab. Sie waren nicht bereit, für die Macht grundlegende Überzeugungen der Partei aufzugeben oder Kompromisse einzugehen. Sie wollten lieber in der Opposition bleiben, notfalls sogar zurück in die außerparlamentarische Opposition gehen. Demgegenüber stand die Führungsschicht der Partei, Parteimitglieder, die mittlerweile Ämter innehatten, Ministerposten, Staatssekretärsposten. Sie hatten die Vorzüge der Macht kennengelernt und waren nicht mehr bereit, sie kampflos aufzugeben. Die Minister- und Staatssekretärsgehälter waren zwar nicht sehr hoch, aber zusammen mit den steuerfreien Diäten, den Reisevergünstigungen und den Rentenansprüchen kam man auf ein ganz anständiges Salär. Und dann gab es noch jede Menge an Nebenverdienstmöglichkeiten, die wirklich lukrativ waren. Niemand, der bei Verstand war, würde freiwillig darauf verzichten. Entsprechend massiv war der Druck, den die Führungsriege im Vorfeld des Parteitags aufgebaut hatte. Unter dem Motto »Wollt ihr in diesem Land wirklich mitbestimmen und gestalten oder wollt ihr freiwillig in die Bedeutungslosigkeit zurück?«, hatte man die Parteibasis argumentativ an die Wand gedrückt. Und mit seiner Rede auf dem Parteitag sollte er der Basis den Fangstoß versetzen. Denn seine Stimme galt in der Partei. An der Basis hatte er immer noch den Ruf des Idealisten und aufrechten Kämpfers. Vor allem die jungen Parteimitglieder waren bereit, ihm zu folgen, auch in schwieriges Gelände.
Seine Rede hatte er wie immer akribisch vorbereitet. Er hatte sie mehrmals vor dem Spiegel gelesen und in Gedankenblöcke eingeteilt. Blöcke, die er schneller vortragen würde, und Blöcke, die er langsam und vertraut, wie von Freund zu Freund, sprechen wollte. Er hatte die großen Redner der Geschichte studiert und hatte sich in seiner politischen Laufbahn immer an den besten Vorbildern orientiert: Willi Brandt, Franz-Josef Strauß und Helmut Schmidt. Er wusste, wie man Reden hielt. Und er konnte auf der Klaviatur seiner Stimme spielen. Er wusste, wie man eine Zuhörerschaft fesselte und auf seine Seite zog – und er würde das auch diesmal schaffen. Er hatte Lust an großen Auftritten. Er hatte Lust daran, Leute in der Hand zu haben. Es war ein Gefühl wie guter Sex, wenn er spürte, dass sein Publikum seine Emotionen teilte, mit seinem Atem mitging, seinen Gefühlen folgte. In seinen besten Momenten schaffte er es, diese Gefühle wie aus dem Nichts zu erzeugen und so plastisch zu schildern, dass er selbst davon überzeugt war. Und indem er fest an das glaubte, was er sagte,
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