Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
überzeugte er seine Zuhörer. Wenn er selbst in diesem Augenblick der Suggestion nicht den Hauch eines Zweifels hatte, sprang der Funke auf seine Zuhörer über und er hatte gewonnen.
Er freute sich auf diesen Moment der Begegnung mit dem Publikum. Davor hatte er keine Angst. Er war sicher, dass er gewinnen würde. Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl, als er am Velodrom aus seiner Limousine stieg und die wenigen Meter bis zum Backstage-Eingang zurücklegte. Die Drohbriefe der letzten Wochen zeigten Wirkung. Trotz des verstärkten Personenschutzes hatte er Angst. Sein Auftritt auf dem Parteitag stellte ein extremes Risiko dar. Es war unmöglich, eine hundertprozentige Sicherheit herzustellen. Man konnte einfach nicht alle Besucher lückenlos auf Waffen durchsuchen. Seine Parteigenossen hätten dafür wenig Verständnis gehabt. Ein Polizeistaat war nicht das, was sie sich zum Ziel gesetzt hatten. Wegen der allgemein zunehmenden Terrorgefahr hatte man sich zumindest entschlossen, am Eingang zum Velodrom zwei Gepäck-Scanner und eine Detektorschleuse zu installieren. Aber die Kontrollen wurden nicht allzu streng gehandhabt. Und auch auf eine Überwachung der Zugangsstraßen und des städtischen Umfelds hatte man weitgehend verzichtet: kein geräumter Sicherheitsbereich, keine versiegelten Wohnungen und Gullys.
Aber wenn er logisch nachdachte, gab es keinen realistischen Grund für seine Angst. Warum sollte ausgerechnet hier etwas passieren? Der Schreiber der Drohbriefe hatte die Möglichkeit gehabt, ihn zu töten. Sie hatten nur ein paar Handbreit nebeneinander gestanden und es war nichts geschehen. Warum also sollte dieser Verwirrte das Risiko eingehen und ihn hier auf dem Parteitag attackieren? Er bildete sich das alles sicher nur ein.
* * *
Die Rede des Ministers war für 14 Uhr angekündigt. Noch eine Stunde. Mark wollte auf keinen Fall zu spät kommen und machte sich auf den Weg. Als er das Velodrom betrat, musste er sich in die Schlange an einem der Scanner einreihen. Er musste seine Tasche und seinen Mantel auf das Förderband legen und durchleuchten lassen. Gut, dass er die Waffe nach seiner Akkreditierung im Gebäude deponiert hatte. Er hatte ein bisschen Angst, dass man den Automaten entfernt und die Waffe gefunden hatte, aber seine Sorge war unbegründet, der Automat stand noch an der gleichen Stelle. Und als er seine Hand in den Spalt zwischen Wand und Automat steckte, spürte er das kalte Metall der 38er. Seine Hände schwitzten und er spürte sein Herz heftig schlagen, als er die Waffe in die Innentasche seines Jacketts schob.
Aus dem Saal hörte er die Stimme des Moderators: »Liebe Parteimitglieder und Parteifreunde. In zwanzig Minuten wird Chris Schneider an dieses Pult hier treten. Bis dahin machen wir eine kurze Kaffee- und Toilettenpause. Der Minister wird pünktlich um 14 Uhr mit seiner Rede beginnen. Ich bitte deshalb alle im Saal um Pünktlichkeit!«
Mark ging im Foyer auf und ab und beobachtete die Parteimitglieder, die sich mit Kaffee und Mineralwasser versorgten oder schnell eine Zigarette rauchten. Er schlenderte an den Informationsständen der verschiedenen Parteigruppierungen vorbei und warf einen flüchtigen Blick auf ihre Programm- und Informationsbroschüren. Die Gesichter der Angehörigen der Parteijugend strahlten vor Optimismus. Diese jungen Leute in ihren legeren Pullovern wussten noch nichts vom Tagesgeschäft der Politik. Noch träumten sie und lebten in ihren idealistischen Gedankenwelten, die mit der Realität nur wenig zu tun hatten. Mark spürte eine aggressive Trauer in sich aufsteigen, wenn er sich daran erinnerte, dass auch er einmal von glühenden Illusionen erfüllt war. Und es schmerzte ihn, dass diesen jungen Leuten ein böses Erwachen bevorstand.
Ein dicker Pinguin mit einem platten, orangefarbenen Schnabel und einer großen Tüte mit drei schmelzenden Eiskugeln in der rechten Hand bahnte sich gemächlich seinen Weg durch die Besucher. Auf einem Transparent in seiner Linken stand: »Hilfe! Mein Eis schmilzt.«
So kann nur eine vollkommen naive Jugend ihre Besorgnis über den Klimawandel ausdrücken, dachte Mark. Währenddessen stieg seine Spannung mit jeder Minute. Er beschloss nach drinnen zu gehen und sich eine geeignete Position zu suchen. Er entschied sich für die zweite Reihe in der Mitte vor dem Podium. Von dort aus hatte er das Rednerpult gut im Blick und die Entfernung ließ ein gezieltes Agieren ohne weiteres zu. Für einen guten Schützen war es ein
Weitere Kostenlose Bücher