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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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verständigen konnten. Ähnlich wie bei den westeuropäischen Sprachen, die alle lateinische Buchstaben verwenden, gleichen sich die molekularen Grundlagen der verschiedenen Organfunktionen.
    Mit dem Vorstoß auf die molekulare Ebene verfügten die Forscher somit über ein weithin verständliches Beschreibungssystem. Der Synergieeffekt, der aus dieser neuen Verständigungsbasis entstand, war gewaltig und hält bis heute an. Nie zuvor gelang es einer Forschungsdisziplin, in so kurzer Zeit so weitreichende und grundlegende Erkenntnisse zu gewinnen. Die Hirnforschung profitierte davon in hohem Maße. Der neue, integrierte Ansatz zeigte die bis dahin ungeahnte Diversität der molekularen Kommunikationsprozesse. Man erkannte, dass die Kommunikation zwischen Nervenzellen nicht nur über elektrische, sondern auch über molekulare Signale funktionierte. Der bis dahin oft gebrauchte Vergleich zwischen Nervenzellen und Transistoren und zwischen natürlichen und elektronischen Gehirnen erwies sich damit als nicht haltbar. Auf der anderen Seite wurde jedoch auch erkennbar, dass Nervenzellen in ihren molekularen Bausteinen eine große Ähnlichkeit mit anderen Zellen aufweisen. Damit konnte man das Wissen, das bei Untersuchungen anderer Organe und Organismen gesammelt worden war, für die Erforschung des Gehirns nutzen.

* * *
    Der Himmel war extrem trüb, als Paul gegen 6:30 Uhr aufwachte. Bei solchen meteorologischen Rahmenbedingungen hätte er sich normalerweise müde und antriebslos gefühlt. Aber heute spürte er eine angenehme, neugierige Spannung. Um 8 Uhr würden sie anfangen, das neue Mikroskop aufzubauen, und dann einen ersten Probebetrieb unter Anleitung des Servicetechnikers von Zeiss fahren.
    Sein Vater saß ihm beim Frühstück gegenüber und fantasierte vor sich hin. Er schien sich gerade mit jemanden über Schuhe zu unterhalten, die zum Wandern geeignet wären. Dabei sprach er manchmal so, als würde der Gesprächspartner mit am Tisch sitzen. Zwischen den einzelnen Sätzen machte er lange Pausen, in denen er vor sich hinstarrte und gelegentlich seinen Namen laut vor sich hin sprach. Von Paul nahm er dabei kaum Notiz, verhielt sich fast so, als würde er alleine am Tisch sitzen.
    Paul war seit einigen Tagen klar, dass er ihn nicht mehr allein lassen konnte. Er hatte sich nach einer Betreuungsperson umgesehen und eine ehemalige Altenpflegerin gefunden, die in Frühpension lebte, weil sie beim Heben von Kranken mehrere Bandscheibenvorfälle erlitten hatte. Sie hatten ausgemacht, dass sie heute ab 7:30 Uhr probeweise einen Tag auf seinen Vater aufpassen würde.
    Als die Betreuerin klingelte, reagierte sein Vater wie ein kleines Kind und freute sich über den Klingelton. Aber als Paul die etwas über 50-jährige, schlanke Frau in die Küche führte, um sie mit ihm bekannt zu machen, reagierte er kaum auf sie und hatte sie nach einer Minute wieder vergessen. Paul war irritiert. Für einen Augenblick war er sich nicht sicher, ob er seinen Vater mit der fremden Frau allein in der Wohnung lassen sollte. Aber dann sagte er sich, dass er nicht sein ganzes Leben aufgeben konnte, um seinen Vater zu pflegen. Er packte seinen Aktenkoffer, verabschiedete sich und schloss die Küchentür hinter sich. Die beiden würden schon ohne ihn zurecht kommen, sie mussten es einfach.
    Er hatte Pech mit dem Verkehr und kam volle vierzig Minuten zu spät. Der Servicetechniker hatte schon mit dem Auspacken der Geräte begonnen und war zusammen mit Pauls Assistenten Torsten Haugk gerade dabei, die einzelnen Module des Mikroskops auf dem Systemtisch zu installieren und mit dem Analyse-Rechner zu verbinden. Als er Paul bemerkte, unterbrach er seine Arbeit kurz, schüttelte ihm flüchtig die Hand und murmelte: »Arthur Rimmel, Guten Morgen.« Dann wandte er sich ohne ein weiteres Wort wieder seiner Arbeit zu.
    Paul ärgerte sich über diese irgendwie herablassende Form der Begrüßung, aber er verkniff sich eine Bemerkung dazu und holte sich einen Kaffee aus dem Automaten im Eingangsbereich des Labors.
    Als er zurückkam, war der Servicetechniker mit dem Aufbau des Mikroskops fertig und bereit, eine kleine Einführung zu geben. »Haben Sie bereits Erfahrung mit Laser Scanning Mikroskopen und FRET?«, begann er. Dabei hatte er weiter diesen herablassenden und genervten Unterton in der Stimme, den Paul schon bei der Begrüßung bemerkt hatte. Es wirkte, als käme er sich zu gut für seinen Job vor, als wäre das alles unter seiner Würde.
    Paul

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