Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
lange gehofft. Das LSM 510 Meta von Carl Zeiss war das modernste konfokale Laser Scanning Mikroskop auf dem Markt, ein Meilenstein in der Mikroskopie. Er war sich sicher, es würde ihm einen Blick in neue Dimensionen erlauben.
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Das Bild zeigte einen Blick ins Innere einer Kirche, direkt auf den Altar, leicht von oben aufgenommen. Der Betrachter hatte mit der Kamera wahrscheinlich etwas erhöht gestanden, in einem Seitenschiff oder auf einer Empore. Das Kreuz im Zentrum des Altarraums ist einfach, ohne jede Verzierung. Es strömt eine große Bescheidenheit aus, die die gesamte Apsis erfüllt. Zu den Seiten hin öffnet sich der Raum, es scheint keine Begrenzung zu geben. So als wäre jeder eingeladen, auf dieser Bühne teil zu haben. Ein Mann steht auf der linken Seite vor dem Kreuz. Er steht abgewandt, als wolle er sagen, ich bin zwar hier, aber ich erkenne das Kreuz nicht an. Sein Blick fällt schräg nach unten. Die Schultern sind leicht nach vorne geneigt, die Arme geschlossen. Alles an dieser Haltung scheint Abwehr, scheint verschlossen. Auf seinen Wangen aber zeigt sich ein Lächeln. Es scheint allem zu widersprechen, in seiner Anmut und Stille. Fast hat man den Eindruck von Glück.
Dem Mann zur Seite steht eine Frau. Ihr Blick ist streng und auf ihn gerichtet. Die Brauen sind leicht zusammengezogen, begrenzen den Blick nach allen Seiten. Der uns zugewandte Mundwinkel hängt etwas herab, fast hat es den Anschein von Verachtung.
Vom Fenster her fällt Licht auf das Gesicht des Mannes und trifft auf sein Lächeln, öffnet es dadurch nach außen, macht es grenzenlos. Unwillkürlich folgt das Auge dem Blick des Mannes und fällt auf das Kind, das er in eine Decke gewickelt auf seinen Armen trägt. Das Gesicht des Kindes scheint das Gesicht des Mannes zu spiegeln, in der Vollkommenheit seiner Anmut.
Der Priester steht unmittelbar neben der Frau. Die Farbe ihrer Gewänder lässt sie fast eins erscheinen in dem schwachen Licht. Nach innen gedreht, zeigt er sein Gesicht nicht. An der Neigung des Kopfes wird deutlich, dass er den Mann nicht anblickt.
Einen genaueren Blick wert ist die Kleidung des Mannes. Er trägt eine lange taillierte Jacke aus feinem, glattem Wollstoff. Der Kragen der Jacke ist aus dunklem Samt. Ganz in Gegensatz zur Elleganz dieser Jacke erscheint die Hose, die der Mann trägt. Sie ist faltig und von der Farbe des Stoffs her inhomogen, ja, sie wirkt ausgewaschen und an den Knien zeigen sich deutlich Spuren der Abnutzung.
Ohne Zweifel, dieses Bild macht den Betrachter zum Zeugen einer Taufe. Aber es ist nicht irgendeine Taufe. Unschwer zu erkennen ist die Dramatik ihrer Figuren, ihre Gespaltenheit.
Sarah schaute sich das Bild, das sie zwischen zwei Hüllen versteckt im CD-Regal ihres Vaters gefunden hatte, lange an. Immer wieder ließ sie ihren Blick über die Szene gleiten und versuchte, jede Nuance des Bilds zu erkennen und in ihrer Bedeutung zu verstehen. Seit sie den ersten Blick auf das Foto geworfen hatte, war ihr Körper in einem Ausnahmezustand. Ihr war sofort klar, dass dieses Bild eine große Bedeutung für ihr Leben hatte, dass es die Kraft hatte, alles, worauf sie bisher vertraut hatte, ins Wanken zu bringen.
Es gab nur eine winzige Chance, den Status Quo aufrecht zu erhalten – der junge Mann auf dem Bild durfte nicht ihr Vater sein. Sie stand auf und fing an, hastig alle Schubladen und Schränke zu durchwühlen. Sie musste unbedingt ein neueres Bild ihres Vaters finden, damit sie vergleichen konnte. Ein paar Minuten später hatte sie, was sie suchte, ein Bild, das ihren Vater mit zwei Freunden oder Kollegen bei einem Fahrradausflug in Italien zeigte. Sie legte die beiden Fotos nebeneinander. Das gleiche Lächeln, der gleiche Mund, die gleichen Augen. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, der Mann auf dem Taufbild war ihr Vater. Und das Kind in seinen Armen war sie, da war sie sich sicher. Ihre Mutter hatte also gelogen. Und sie hatte ihr geglaubt, ohne jemals zu zweifeln, ihr ganzes bisheriges Leben lang.
Ihre Mutter hatte ihr immer erzählt, dass ihr Vater sie noch vor der Geburt verlassen hatte, dass er sich nie um sie gekümmert hätte. Und dieses Bild bewies das Gegenteil. Zumindest bei ihrer Taufe hatte ihr Vater sie noch in den Armen gehalten. Ihre Mum, die immer alles für sie getan hatte, hatte sie belogen. Sie musste herausfinden, weshalb.
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Als Paul seine Tätigkeit in der Forschung am MPI in Berlin aufnahm, hatte er seine Einstellung zu Kornmüller längst
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