Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
geändert. Als Gymnasiast hatte er keinen Einblick in die Hintergründe von Kornmüllers Versuch gehabt, deshalb war Kornmüller ein Held für ihn gewesen. Im Verlauf seines Studiums war ihm jedoch klar geworden, welches Dilemma Kornmüller und seine Kollegen in diesen Versuch getrieben hatte.
Kornmüllers junge Wissensdisziplin befand sich in einer Zwickmühle, die die Forscher extrem überforderte. Sie hatten sich der Lösung drängender medizinischer Probleme verschrieben, konnten eine große Zahl wichtiger Entdeckungen vorweisen, aber letztlich war es nicht gelungen, direkt anwendbare Erkenntnisse zu erbringen. Diese Enttäuschung hatte Kornmüller wohl zu seinem extremen Selbstversuch getrieben.
Der mit viel Engagement betriebene Versuch, das erkrankte menschliche Gehirn zum Forschungsgegenstand zu machen, um möglichst schnell zu therapeutisch verwertbaren Erkenntnissen zu kommen, stellte sich als Sackgasse heraus. Die Wissenschaftler sammelten zwar in nahezu enzyklopädischer Vollständigkeit pathologische Befunde, konnten dadurch aber nur in seltenen Ausnahmefällen funktionelle Zusammenhänge aufklären. Zum Teil wurden diese Befunde auch im Rahmen der menschenverachtenden Eugenik- und Euthanasieprogramme des dritten Reiches gesammelt, in einer Phase der tiefsten Dunkelheit der medizinischen Forschung, die ihren Ursprung zum Teil auch in diesem verzweifelten Streben nach Erkenntnis um jeden Preis hatte, aber zum Großteil auch Auswuchs von Eitelkeit und Geltungssucht der beteiligten Wissenschaftler war.
Jedes Mal, wenn er durch die umfangreiche Präparatesammlung streifte, die es auch in seinem Institut gab, spürte er den Hauch von Düsternis und Gewalt, den diese Gehirne und Hirnteile in den Raum abstrahlten. Es war ihm manchmal, als könne er die verzweifelten Stimmen dieser gequälten Kreaturen in der Zwiesprache mit ihren von gnadenloser Egozentrik getriebenen Ärzten aus dem sanften Luftzug der Korridore hören. In den meisten Instituten, die sich in dieser Zeit mit Hirnforschung beschäftigt hatten, gab es diese sinnlosen Präparatesammlungen.
Erst in den 60er-Jahren fand ein Wandel statt. Er ist eng mit Horst Jatzkewitz, dem damaligen Direktor am MPI für Psychiatrie, verbunden. Jatzkewitz gelang es, die Ursachen der metachromatischen Leukodystrophie aufzuklären, einer sehr seltenen, erblichen, degenerativen Erkrankung, die zu Debilität führte. Er konnte nachweisen, dass bei den Erkrankten ein angeborener Enzymdefekt für eine Anreicherung von Lipidmolekülen im Gewebe verantwortlich ist, die zum Tod von Nervenzellen führt.
Das Neue daran war, dass Jatzkewitz Biochemiker war, nicht Arzt oder Pathologe, und dass er für seine Erforschung des Schwachsinns eine Krankheit wählte, die therapeutisch wegen ihrer Seltenheit kaum relevant ist, dafür aber mit besonders auffälligen strukturellen Veränderungen einhergeht. Jatzkewitz suchte also dort, wo die Chancen auf Erfolg am größten waren, und nicht dort, wo die drängendsten klinischen Probleme lagen.
Außerdem ging Jatzkewitz als Biochemiker das Problem mit anderen Methoden an und verwendete die Erkenntnisse über Enzyme des Fettstoffwechsels, die in Tierversuchen gewonnen worden waren, um die Ursachen für die metachromatische Leukodystrophie aufzuklären. Dem Forschungsansatz von Jatzkewitz folgend, ist es inzwischen gelungen, die Ursachen der meisten degenerativen Speicherkrankheiten des Gehirns aufzuklären und für die erblichen unter ihnen die verantwortlichen Gene zu identifizieren.
Auch die Aufklärung der Ursachen der Alzheimerschen Krankheit ist diesem neuen Forschungsansatz zu verdanken, allerdings unter Einsatz der modernsten, molekularbiologischen Verfahren.
Mit Jatzkewitz hatte ein neues Kapitel der Hirnforschung begonnen. Ein Kapitel, das noch immer andauerte und das wegen seiner außerordentlichen Forschungsergebnisse einst als das goldene Zeitalter der Hirnforschung bezeichnet werden könnte.
Die experimentelle Neuroanatomie, eine primär am Gesunden interessierte Disziplin, zog wieder in die Hirnforschungsinstitute ein und ergänzte die Neuropathologie, nachdem sie von dieser fünfzig Jahre vorher verdrängt worden war.
Jatzkewitz war überzeugt, dass man erst wissen musste, wie das Gehirn im Normalfall funktioniert, wenn man die Ursachen von Störungen erkennen wollte. Und dafür standen ihm erstmals die erforderlichen Methoden zur Verfügung. Einigen Ingenieuren, darunter J. F. Tönnies, dem einstigen
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