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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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Sie hätte es einfach einschalten und mit dem Überraschungseffekt auf ihrer Seite in den Verschlag stürmen können. Aber Müll nach Einbruch der Dunkelheit in die Tonnen zu werfen, war nicht erwünscht, deshalb hatte man den Verschlag absichtlich nicht mit Licht ausgestattet.
    Sie überlegte, was wohl das Beste wäre, einfach langsam reingehen oder schnell und laut schreiend. Aber hatte sie den Mut dazu? Vorsichtig hob sie einen Kieselstein vom Boden auf und schleuderte ihn mit aller Kraft in den Verschlag. Er knallte voll gegen einen der Müllcontainer und brachte ihn zum Schwingen wie eine Glocke. Aber auch jetzt geschah nichts. Als die Schwingungen des Containers wieder aufgehört hatten, herrschte wieder Stille.
    Jetzt hatte sie genug von dem Spiel. Sie nahm all ihren Mut zusammen und trat mit einem entschlossenen Schritt in den Verschlag. Nichts geschah, kein Schlag, kein Angriff, nichts. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Genau ihr gegenüber zwischen den Müllcontainern an der Wand glaubte sie, den Umriss einer Gestalt zu erkennen. Und jetzt hörte sie auch jemanden atmen, ganz leise und ängstlich. Die Gestalt zwischen den Müllcontainern hatte Angst.
    »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte die Gestalt mit sanfter, zitternder Stimme. »Ich warte hier nur auf jemanden, den ich unbedingt sprechen muss. Sie müssen sich keine Sorgen machen.«
    Fast hätte sie angefangen, laut zu lachen, soviel Unsicherheit und Angst lagen in dieser Stimme. Aber sie hielt sich zurück, auch weil sie die Stimme sofort erkannt hatte. Es war die Stimme des jungen Mannes, die sie auf dem Anrufbeantworter ihres Vaters gehört hatte.
    »Ich weiß«, sagte sie ruhig in die Dunkelheit. »Ich weiß, auf wen Sie warten.«
    Der junge Mann schwieg, er schien überrascht, sagte aber nichts.
    »Sie warten umsonst. Der auf den Sie warten wird nicht mehr kommen. Er ist…« Sie zögerte weiter zu sprechen, weil sie spürte, wie wichtig das für ihr Gegenüber war. Erst musste sie heraus finden, worum es ging. Deshalb schwenkte sie um und meinte freundlich: »Haben Sie Lust, einen Kaffee bei mir zu trinken, ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten – und hier ist es etwas ungemütlich.«
    Der junge Mann zögerte. »Ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht, gern.«
    »Gut, dann kommen Sie, ich gehe voraus.«
    Der junge Mann löste seine starre Haltung etwas auf, machte aber keine Anstalten, ihr zu folgen.
    »Ich heiße übrigens Mark.«
    »Ich weiß. Kommen Sie, mir ist kalt!«

* * *
    Trotz aller neuen Erkenntnisse war das Gehirn aber nach wie vor eine riesige Terra incognita. Je länger Paul sich mit der Materie beschäftigte, desto bewusster wurde ihm, welch gigantisches Gebiet vor ihm lag. Er kam sich vor wie ein Einzeller, der die Aufgabe hatte, ein Gebiet von der Größe der Weltmeere zu erforschen. In seiner Ausdehnung mit keinem Gebiet vergleichbar, das Menschen je erforscht hatten. Das Gehirn des erwachsenen Menschen war in seinen wesentlichen Funktionsprinzipien noch unbekanntes Territorium.
    Das rund eineinhalb Kilogramm schwere Gehirn enthält etwa 100 Milliarden Neurone. Jedes dieser Neurone ist mit bis zu 10.000 anderen Neuronen über neuronale Verknüpfungen, die als Synapsen bezeichnet werden, verbunden. Einige spezielle Neuronen des Zwischenhirns sind sogar mit bis zu 80.000 anderen Neuronen verknüpft. Daraus ergibt sich eine ungeheuere Anzahl von möglichen Schaltkreisen, die so gigantisch groß ist, dass sie die Zahl der Partikel im uns bekannten Universum um ein Vielfaches übertrifft.
    Die Synapsen befähigen die Neuronen des Gehirns, miteinander zu kommunizieren. Durch die Art dieser Kommunikation unterscheiden sich die Neuronen von allen anderen Zellen im menschlichen Körper. Dabei wird in der Regel ein elektrisches Signal in ein chemisches übersetzt, die Kommunikation verläuft elektro-chemisch. Dies geschieht mittels sogenannter Neurotransmitter, die in den Spalt zwischen den Synapsen zweier Neuronen ausgeschüttet werden und das Signal von einer Synapse zur anderen übermitteln.
    Klingt relativ einfach und noch einigermaßen überschaubar. Aber das Gehirn enthält ein ganzes Spektrum an Neurotransmittern und Neuromodulatoren, die bei der Signalübermittlung zwischen den Synapsen an verschiedene Rezeptoren anbinden und auf verschiedene Weise biochemisch wirken können. Die chemische Beschaffenheit dieser Neurotransmitter und ihrer Rezeptoren sowie die vielfältigen Bedingungen ihrer elektrischen

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