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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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beeindruckt war.
    »Sie haben hier auch die Möglichkeit, jede beliebige Ebene innerhalb eines Präparats gestochen scharf abzubilden.« Der Techniker machte drei Mausklicks und eine neue Ebene der Zelle erschien auf dem Display. »Die Informationen, die nicht aus der eingestellten Bildebene stammen, werden durch das Gitter vor dem Detektor ausgeblendet. Das ist der Vorteil des konfokalen Prinzips, Sie können ‚optische Schnitte’ durch die Probe legen, ähnlich wie bei MRT Untersuchungen im Medizinbereich.«
    Paul fand den Tonfall des Technikers immer noch unerträglich, regte sich aber nicht mehr darüber auf. Das Mikroskop begann ihn mehr und mehr zu faszinieren. Diese neue Technik öffnete für die Neurobiologie einen neuen Horizont. Endlich war es möglich, eine große Zahl von Zell- und Gewebebestandteilen räumlich hochgenau zu lokalisieren und die komplexen Beziehungen und Wechselwirkungen in lebenden Zellen in ihrem natürlichen Umfeld zu verfolgen. Er bat Torsten, das für den ersten Test des Mikroskops vorbereitete Zellpräparat aus dem Präparateschrank zu holen und setzte den Objektträger in das Mikroskop ein. Mit Unterstützung des Technikers führten sie eine erste Analysesequenz an der Probe durch. Von Schritt zu Schritt wuchs Pauls Begeisterung für das LSM 510. Endlich, das war genau das, was er brauchte, um die Spur der Erinnerung weiter zu verfolgen.

* * *
    Er war wieder hier. Sie konnte es spüren, als sie die Tür zum Hinterhof öffnete, den sie auf dem Weg zum Hauseingang überqueren musste. Als sie in den Hof trat, sah sie noch seinen Schatten hinter dem Betonverschlag verschwinden, in dem die Mülltonnen untergebracht waren. Kein Zweifel, es war derselbe junge Mann, der sich schon seit Tagen auf dem Gelände herumtrieb. Er trug die gleiche dunkle Nylonjacke. Ein Blouson wie es in jedem Army- oder Jeansladen zu haben war. Auf was wartete er seit Tagen? Er machte ihr angst. Aber sie war auch neugierig und hatte keine Lust mehr auf dieses Versteckspiel.
    »Sie brauchen sich nicht zu verstecken, ich weiß, dass Sie da sind!«, rief sie mit lauter, fester Stimme. Keine Antwort. Nichts regte sich im schummrigen Halbdunkel des Hinterhofs. Das einzige Geräusch, das sie hörte, war der metallische Sound der Fernsehgeräte, deren Bilder in abruptem Wechsel über die matt erleuchteten Fenster huschten.
    »Ich weiß, wer Sie sind!«, setzte sie noch hinzu und hoffte, dass sie den jungen Mann durch diese unerwartete Bemerkung aus der Fassung bringen konnte. Aber nichts rührte sich. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Als sie es merkte, bemühte sie sich bewusst, ganz ruhig zu atmen – ein und aus. Dann ging sie langsam, Schritt für Schritt, auf den Betonverschlag zu. Es blieb still. Auch ihre Schritte erfolgten geräuschlos. Sie war so gespannt, dass sich ihr Hörsinn extrem steigerte. Mit einem Mal konnte sie die Dialoge aus dem Tonmix der Fernsehgeräte kristallklar isolieren. »Ja...«, sagte der Tatortkommissar, »... ja, Sie haben recht, wir alle sollten manchmal auch Augen für unsere Mitmenschen haben.« Lange Pause »Aber jetzt ist es zu spät«, setzte die Stimme des Kommissars wie beladen vom gesamten Schmerz der Welt noch einen drauf. Dann setzte Musik ein, hymnisch, eine Anlehnung an eine Symphonie von Brahms vielleicht, aber alles in allem eine mittelmäßige, kitschige Filmmusik, schoss ihr durch den Kopf. Switch »Das Verständnis für die Lösegeldzahlungen der Bundesregierung nimmt immer weiter ab. Das ergab eine Blitzumfrage vom Montag. Nur noch 14 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung...« Switch »Was lernen wir daraus? Auch Prinzen haben ganz normale Bedürfnisse. Und wer da Benimmkurse für Adelssprösslinge fordert, liegt vielleicht gar nicht so schlecht. Das war’s für heute. Ich wünsche ihnen einen schönen Feierabend und machen Sie was draus! Alles wird gut.« Switch
    Sie zog ihre Konzentration ab, richtete ihr Radar wieder auf den Betonverschlag im Halbdunkel. Dort herrschte immer noch völlige Stille, kein Atem, keine Bewegung.
    Sie hatte jetzt den Eingang des Betonverschlags erreicht und blieb stehen. Ein dunkles Rechteck, aus dem ein leicht süßlicher Müllgeruch aufstieg. Sie spannte alle Muskeln ihres Körpers an und lauschte. Immer noch herrschte vollkommene Stille in dem Verschlag. Sie rückte noch zwei Schritte vor und stand jetzt unmittelbar vor dem Eingang. Es begann, ekelhaft nach Müll zu stinken.
    Scheiße, dass es kein Licht in dem Verschlag gab.

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