Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
Elektronikingenieur von Kornmüller, war es inzwischen gelungen, Elektroden anzufertigen, mit denen es möglich war, die elektrische Aktivität einzelner Nervenzellen im Gehirn zu messen. Damit konnte der Signalaustausch zwischen Nervenzellen verfolgt werden, die Sprache der Neuronen konnte quasi aufgezeichnet werden.
Etwa zur gleichen Zeit kam der Neurologe und Psychiater Otto Creutzfeldt nach München. Er konzentrierte sich bei seinen Forschungen darauf, die funktionelle Organisation jener Hirnstrukturen zu analysieren, die kognitiven Leistungen zu Grunde liegen. Dabei nutzte er Methoden der Elektrophysiologie, die er bei seinem Lehrer Richard Jung in Freiburg gelernt hatte und die es ermöglichten, die Aktivität von Nervenzellen der Hirnrinde narkotisierter Tiere zu registrieren.
Dabei faszinierte ihn vor allem der Gesichtssinn. Er war davon überzeugt, dass die dabei aufgefundenen Funktionsprinzipien auf alle anderen Sinnessysteme übertragbar sein würden. Eine Überzeugung, die sich als richtig herausstellte.
Damit lag Otto Creutzfeldt im neuen Trend. Die Forscher verzichteten auf die Bearbeitung von Problemen, für die kein gangbarer Lösungsweg erkennbar war. Sie konzentrierten sich auf die geduldige Erforschung von Prinzipien statt auf die Suche nach therapeutisch nutzbaren Ergebnissen. Dabei richteten sie den Blick auf Modellsysteme, an denen sich die vermuteten Prinzipien besonders leicht erforschen ließen. Man begann, dort zu suchen, wo Erkenntnisse und Durchbrüche wahrscheinlich waren und wo bearbeitbare Hypothesen formuliert werden konnten, unabhängig davon, ob direkte Bezüge zu medizinischen Problemen erkennbar waren.
Man bekannte sich zur Grundlagenforschung und damit zum Eigenwert von Erkenntnis – und hatte den Mut, einen Weg zu gehen, bei dem sich nicht mit Sicherheit angeben ließ, zu welchem Ziel er führte.
Aber diese Art der Forschung legte den Grundstein für die entscheidende Rolle der Max-Planck-Institute in der Geschichte der Hirnforschung.
Vieles von dem, was die Forscher auf ihrem Weg taten, erschien von außen betrachtet als reines Spiel aus Neugier. Zum Beispiel die Untersuchung von Ionenkanälen an Nervenzellen von Schnecken durch Lux, die Analyse der funktionellen Architektur der Hirnrinde von Katzen durch Creutzfeldt, die Identifikation synaptischer Überträgerstoffe in entlegenen Bereichen des Gehirns von Ratten durch Herz und die Verfolgung des Transports von Eiweißmolekülen im überlangen Riechnerv des Hechtes durch Kreutzberg.
Erst im Rückblick wurde erkennbar, wozu diese Experimente gut waren. So führten sie zur weitgehenden Aufklärung der Ursachen von epileptischen Anfällen und ermöglichten die Entwicklung von medikamentösen und operativen Behandlungsmethoden. Außerdem ermöglichten die gewonnenen Erkenntnisse erstmals die Formulierung von präzisen und testbaren Hypothesen über die Funktionsabläufe im Gehirn.
Neurophysiologen am MPI in der Kraepelinstraße in München folgten dem Fluss neuronaler Signale und drangen, von den Sinnesorganen ausgehend, in die inneren Hirnbereiche vor, wo sie das Substrat von Wahrnehmungsleistungen zu entschlüsseln hofften.
Am MPI in Frankfurt interessierten sich die Forscher indes für die Steuerung von Bewegungen und wählten den umgekehrten Weg. Sie arbeiteten sich von den motorischen Zentren im Rückenmark zu den Gehirnregionen zurück, in denen Bewegungen initiiert und programmiert werden. Inzwischen sind sich die beiden Forschungsansätze, die mittlerweile weltweit mit großer Intensität verfolgt werden, begegnet. Jetzt ist nachvollziehbar, wie sensorische und motorische Prozesse ineinander greifen, wenn wir ein Objekt mit den Augen verfolgen oder nach ihm greifen. Entsprechend konkret sind auch die Vorstellungen darüber, auf welchen Fehlfunktionen Störungen dieser Koordinationsleistungen beruhen. Die operativen und medikamentösen Therapien von Bewegungsstörungen, etwa der Parkinson’schen Erkrankung, beruhen ebenso auf diesem Wissen wie die modernen Rehabilitationsverfahren.
Die Entwicklung molekularbiologischer Methoden führte schließlich zu einer weiteren Revolution in der Hirnforschung. Aus den klassischen Disziplinen der Pharmakologie und Biochemie entstand eine neue Forschungsrichtung, die molekulare Neurobiologie. Damit hatten Pharmakologen, Immunologen, Biochemiker, Entwicklungs- und Zellbiologen, Neuropathologen und Genetiker erstmals eine gemeinsame Sprache gefunden, in der sie sich direkt
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