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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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Charme. Überall wurde gebuddelt, wollte man wieder jemand sein auf dem Laufsteg der Weltstädte. Aber würde das ausreichen? Sicher, man hatte endlos viel leere Fläche, Raum genug für die Konzernzentralen und Verwaltungsgebäude der großen internationalen Unternehmen und dazu jede Menge kreativen Freiraum für alle nur erdenklichen Projekte der Zukunft. Keine andere Stadt auf der Welt hatte in ihrem Zentrum soviel Raum, der zur Bebauung bereit stand. Nach dem Mauerfall waren alle in Euphorie verfallen, hatten Berlin in wenigen Jahren als eine der stärksten Metropolen im Kreis der Weltstädte gesehen. Auch er hatte dazugehört, auch er war überzeugt gewesen, dass Berlin ein riesiger »Clondyke District« wäre und einen Goldrausch unter den internationalen Investoren auslösen würde, der der Stadt eine glänzende Zukunft bereiten würde.
    Aber die Ernüchterung war längst gekommen. Es ging nur langsam voran. Vielleicht dachten die Kapitalströme, die mit der Geschwindigkeit und Kälte des Jetstream über den Planeten zogen, gar nicht daran, Berlins Hunger nach Entwicklung und Bedeutung zu stillen. Vielleicht war Europa mit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr erste Priorität für das Weltkapital und vielleicht auch nicht mehr lukrativ genug. Das amerikanische Interesse an Deutschland und Europa schien jedenfalls im Moment nur noch oberflächlich vorhanden. Die Interessen der größten Wirtschaftsmacht auf dem Planeten lagen jetzt wohl eher im nahen Osten und in Asien. Und wahrscheinlich nahm deshalb auch das Kapital seinen Weg in diese Regionen. Also blieb für Berlin nur ein verhältnismäßig kleiner Teil, der um den Globus kreisenden Milliarden übrig – zu wenig, um einen echten Boom zu entfachen. Die Menschen in den Straßen dort unten interessierte das sicher einen Dreck. Sie hatten genug damit zu tun, sich Tag um Tag über Wasser zu halten.
    In diesen Straßen hatte er seine Jugend verbracht. Als Student an der freien Universität hatte er seine ersten Erfahrungen mit der Politik gemacht. In der WG, in der er damals wohnte, hatten sie nächtelang über die Möglichkeiten einer revolutionären Veränderung der Bundesrepublik diskutiert. Oft bis zum Morgengrauen – und bis das letzte Krümel Marihuana geraucht war.
    Die Nacht zum ersten Mai war für sie damals immer ein Highlight gewesen. Becks und Randale bis zur Morgendämmerung. Damals stand er noch auf der anderen Seite, als Anführer der Kundgebungen, den Bullen gegenüber. Jetzt war er oberster Dienstherr dieser einst verhassten Bullen. Wahnsinn, dachte er, welchen Weg ein Leben nehmen kann!?
    Er zog sein Brioni Jackett aus und hängte es in den Garderobenschrank. Dabei warf er einen Blick in den Spiegel. Das neue Hemd und die Krawatte, die er bei einem Bummel durch Mailand erstanden hatte, kamen gut. Der leichte, sehr dezente Grünton des Hemds passte perfekt zu seinen grauen Schläfen. Er war zufrieden mit sich. Das einzige was ihn störte, war der leichte Bauch, den er in den letzten Monaten bekommen hatte. Aber er war nun mal ein eher barocker Typ und er hatte keine Lust, sich zu kasteien. Dazu mochte er einen guten Rotwein viel zu gern und das Abendessen war für ihn immer ein Highlight des Tages. Er war einfach ein Genießer, basta.
    Früher hatte er keinen Wert auf Essen gelegt. Kaffee, Drogen, Alkohol und Frauen standen neben der Politik im Zentrum seines Lebens. Frauen gehörten damals in den 70ern einfach dazu. Es gehörte einfach zur politischen Einstellung, so viele wie irgend möglich flach zu legen. Auch jetzt spielten Frauen noch eine große Rolle in seinem Leben, aber jetzt musste er vorsichtiger damit umgehen. Die Presse war ihm ständig und überall auf den Fersen.
    Als jüngster Minister seit Bestehen der Republik war er eine Art Popstar. Manchmal ging ihm das ziemlich auf die Nerven, aber trotzdem tat er alles, um dieses Image zu stützen. Und er hatte Erfolg dabei, weil er reden konnte, wie sonst keiner auf der politischen Bühne.
    Dass er ein ungeheures Redetalent hatte, war ihm schon in seinen frühen Berliner Tagen aufgefallen. Aber jetzt, zusammen mit der echten Macht, konnte er dieses Talent unvergleichlich besser einsetzen. Wenn er auf öffentlichen Veranstaltungen oder auf Parteitagen redete, merkte er, wie faszinierend dieses Gefühl der Macht über eine große Zahl von anderen Menschen war und wie sehr er in der Lage war, das zu genießen. Er hatte einfach Charisma, das billigten ihm alle einhellig zu,

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