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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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erstaunt, dass sich schon nach dem ersten Rufton jemand meldete und ihren Notruf entgegennahm.
    Nach dem Anruf stieg sie langsam die Treppe hinunter und wartete im Hof auf das Eintreffen der Feuerwehr. Sie schaute zu den Fenstern der Wohnung hinauf und ihr war klar, dass nichts mehr zu retten war. Als die Feuerwehr nach zehn Minuten eintraf, schlugen die Flammen bereits durch die Fenster und leckten an den Außenmauern des Altbaus entlang. Damit hatte sie keine Bleibe mehr in Berlin. Alles, was ihr geblieben war, war diese Schublade mit ein paar Fotos und Papieren.
    Einer der Feuerwehrleute stellte ihr ein paar Fragen zum Brandhergang und nahm ihre Personalien auf. Dann ließ er sie stehen und schloss sich wieder seinen Kollegen an.
    Sie packte ihre Habseligkeiten und machte sich auf die Suche nach einem Internetcafé, um sich ein Hotel zu suchen. Die Suchmaschine spuckte jede Menge günstige Bleiben aus. Weil sie keine Lust hatte, allzu weit zu laufen, entschied sie sich für ein Hotel um die Ecke. Den Fotos nach zu urteilen nicht gerade das modernste, aber für zwei, drei Nächte, egal.
    Der Nachtportier sah sie mit großen Augen an, als sie die Schublade auf den Empfangstresen stellte, und meinte flapsig und mit einem leicht ironischen Unterton: »Wenn sie nach einem passenden Tisch dazu suchen, muss ich Sie enttäuschen, wir haben hier seit den 50ern nicht mehr renoviert.«
    Sie sah ihn erstaunt an. Das war nicht grade eine Werbung für sein Hotel.
    »Aber die Frühstücksbrötchen sind frisch, da brauchen Sie keine Angst zu haben«, setzte er mit einem Augenzwinkern hinzu, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte.
    Sie reagierte null auf seinen Scherz. Sie wollte einfach nur ein Dach über dem Kopf und ihre Ruhe. Also füllte sie wortlos die Anmeldung aus und ging auf ihr Zimmer.
    Es war schlimmer als erwartet. Die Wasser- und Abflussrohre waren direkt neben ihrem Bett über Putz verlegt. Sie legte sich hin und lauschte. Wie erwartet, hörte sie das Quietschen der Wasserhähne und das Rauschen des Wassers, sobald irgendwo im Haus jemand einen Hahn öffnete. Und wenn jemand über ihr den Kloinhalt auf den Weg durch das Fallrohr schickte, konnte sie sich anhand der Geräusche vorstellen, was da an ihr vorbei rauschte. Ihr war, als könne sie den Geruch der nach unten klatschenden Exkremente durch den Rohrmantel riechen. Am liebsten wäre sie sofort wieder abgehauen, aber sie war zu erschöpft dazu. Sie war einfach nicht mehr in der Lage, noch irgendetwas zu unternehmen. Sie konnte nicht noch mal aufstehen.
    Ihre Gedanken begannen zu kreisen. Man hatte gerade versucht, sie zu ersticken und zu verbrennen. Oder hatte sie sich getäuscht? War vielleicht alles nur ein Traum gewesen? Sie war sich nicht hundertprozentig sicher. Aber es war bestimmt besser, vorsichtig zu sein. Vor allem, wenn Kommissar Revelli mit seinen Vermutungen über den Tod ihres Vaters Recht hatte. Sie spürte, wie ihr Körper immer schwerer wurde. Und ohne den Übergang zu bemerken, fiel sie in einen bleiernen traumlosen Schlaf.
    Als sie mit den ersten morgendlichen Spülungen aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte, nahm sie sich die Schublade vor, um zu checken, was ihr von ihrem Vater geblieben war. Zwischen ein paar Bankauszügen, die allesamt im Minus waren, fand sie das Foto. Sie warf einen langen Blick darauf. Dann legte sie es zwischen die Seiten eines Taschenbuchs, das sie auch in der Schublade gefunden hatte und schob es in ihre Jackentasche.
    Sie überlegte, was sie mit der Schublade machen sollte. Sie hatte keinen Bock, das Ding weiter durch Berlin zu schleppen, und schaute sich im Zimmer um. Im Schrank fand sie einen vergammelten Plastikbeutel für Wäsche. Genau das, was sie jetzt brauchte. Sie setzte sich wieder zu ihrer Schublade aufs Bett und sortierte weiter aus.
    In der Schublade gab es nichts Wichtiges, den üblichen Kram, Kreditkartenabrechnungen, einen Einkaufsbeleg von Penny über eine Zitrone, zwei mal Avocado und Toilettenpapier, einen Arzttermin-Notizzettel, ein halbes Päckchen Aspirin, ein bisschen Kleingeld, eine Fernsteuerung für einen Walkman oder einen MP3-Player, ein Handyladegerät, ein paar alte Briefe, ein paar Schreibgeräte, die Rechnung eines Parkhauses in Neukölln über einen Stellplatz für Dauerparker, eine Kette aus bunten Büroklammern, einen Terminkalender vom vergangenen Jahr, einen Stapel Restaurantquittungen, ein einsames verknautschtes gelbes Ohropax – nichts besonderes, der übliche Kram. Sie

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