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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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Karre hier fahren kannst? Ist dir das mehr wert als alles, woran wir geglaubt haben? Ist dir das wirklich mehr wert?«
    Schneider hatte das Gesicht des Mannes im Halbdunkel angestarrt und versucht, seinen Gegner einzuschätzen. Er wirkte gut zehn bis fünfzehn Jahre jünger als er selbst. Unwahrscheinlich, dass sie zusammen einen Teil ihrer Jugend verbracht hatten. Und außerdem konnte er auch mit größter Anstrengung keinen bekannten Zug in diesem Gesicht neben sich erkennen.
    »Ich weiß nicht, wer Sie sind, ich kenne Sie nicht? Ich wüsste nicht, wo wir uns schon mal gesehen haben«, hatte er brüsk geantwortet, wobei er sich Mühe gegeben hatte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen.
    »Erinnerst du dich nicht, wir haben zusammen Schach gespielt, im Café Voltaire , immer sonntags, beim Frühstück?! Ich hab meinen Arsch für dich hingehalten, bei den Bullen, und du willst mich nicht mehr kennen, reagierst nicht auf meine Briefe?«
    »Es tut mir leid, aber ich kenne Sie wirklich nicht!«, hatte er, inzwischen etwas genervt, in seiner schnoddrigen herrischen Art geantwortet. In der Hoffnung, dass dieser Ton den Wind aus den Segeln dieses Irren nehmen würde.
    »Klar, das passt! Natürlich kennst du mich nicht mehr, natürlich willst du nichts mehr von früher wissen. Es ist immer schlecht, die Wahrheit zu hören, wenn man so ein Heuchler ist wie du. Ich dacht’ mir, das gibt’s nicht, ich fass es nicht, das kann nicht sein, Innenminister, der, der immer gegen Polizei und Staatsmacht war, buchtet jetzt ein und lässt Leute wie mich bespitzeln!? Das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein. Aber es ist so.« Der Mann kam mit seinem Gesicht noch näher an Schneiders Wange, sodass seine Lippen fast sein Ohr berührten und sagte ganz leise und entspannt: »Ich sag dir was. Du denkst, dass du damit durchkommst, du denkst… Aber ich sag dir, es ist nicht so. Ich kenn jetzt dein Gesicht. Und ich schau in dich hinein, schau durch deine Haut wie durch Glas.« Er machte eine lange Pause und fuhr dann mit erhobener Stimme fort: »Wenn ihr diese Leute kennt, dann nehmt euch in Acht vor ihnen, sie sind die Zerstörer von all dem, was klar ist und ohne Lüge. Und habt keine Angst, sie daran zu hindern.« Mit diesem Satz, der wie ein Zitat klang, war der Unbekannte einen Schritt zurück getreten und hatte die Autotür wieder frei gegeben. »Wir sehen uns, bis bald!«
    Auf der Nachhausefahrt über die Stadtautobahn hatte Christian Schneider sich den Kopf zermartert, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen haben könnte. Aber »no match«, er hatte dieses Gesicht definitiv noch nicht gesehen. Aber woher wusste der Mann dann so gut Bescheid über seine Gewohnheiten in der Berliner Studentenzeit? Er war über Details informiert, die nur jemand wissen konnte, der ihn in dieser Zeit wirklich gekannt hatte. Und das gab ihm zu denken. Denn wenn es dem BKA oder dem Verfassungsschutz gelang, den Absender der Briefe zu finden, konnte dies jede Menge Ärger bedeuten. Oder vielleicht hatte man den Typen auf ihn angesetzt, um ihn abzusägen? Vielleicht steckte hinter dem Ganzen ja Joachim Becker, der Leiter des Verfassungsschutzes? Becker hasste ihn. Als Erzkonservativer hielt er es für einen Skandal, dass jemand wie er, der als junger Mann in der linken Szene aktiv gewesen war, Innenminister hatte werden können. Und Becker würde vor nichts zurückschrecken, um ihn aus dem Amt zu intrigieren, auch nicht vor so einer erbärmlichen Inszenierung. Er musste in den nächsten Wochen auf alle Fälle verdammt aufpassen, was er sagte und tat. Das war mit Sicherheit vermintes Gelände. Am besten würde es sein, wenn er nichts mehr darüber weitergab. Und auch die Briefe würde er ab sofort nicht mehr ans BKA weiterleiten.
    Inzwischen war es hell geworden über der Stadt. Keine zwei Stunden mehr bis zum Beginn des hektischen Tagesgeschäfts. Nur zu gern hätte er die Zeit angehalten, um diesen Moment hinauszuzögern. Er war nicht mehr der zupackende Politiker von früher. Wenn er ehrlich zu sich war, musste er eingestehen, dass er in einem Winkel seiner Seele angefangen hatte zu zweifeln. Deshalb ließ er sich seit einigen Monaten jeden Morgen schon zwischen fünf und sechs von der Fahrbereitschaft ins Ministerium bringen. Er brauchte diese Zeit, um sich ungestört auf den Tag vorzubereiten, um die Kraft zu finden.
    Draußen zeigte sich jetzt das raue Gesicht Berlins. Es war eine Stadt ohne viel Make-up, aber mit einem ganz eigenen

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