Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
Parteifreunde und Gegner.
Für 9:30 Uhr hatte sich Joachim Becker zusammen mit ein paar Ressortleitern zum monatlichen Lagebericht angemeldet. Ein unangenehmer Termin, vor dem er immer nervös war. Denn der Leiter des Verfassungsschutzes gehörte nicht gerade zu seinen Freunden. Becker war extrem eitel. Und er hatte diese Eitelkeit bei ihrem ersten gemeinsamen Ausflug nach Mailand sehr stark verletzt, ohne es gleich zu merken. Er ärgerte sich noch jetzt maßlos über diesen unnötigen Fauxpas. Seitdem war Becker sein erbitterter Feind. Und Schneider war überzeugt davon, dass er seine Leute heimlich in den alten Geschichten wühlen ließ, in der Hoffnung, irgendwann genug Dreck zu finden, um ihn ins Straucheln zu bringen. Dieser verdammte, kleinkarierte Spürhund würde nicht locker lassen. Er musste versuchen, ihn auszuschalten, bevor er etwas gegen ihn in der Hand hatte.
Seit dem Tod von Andreas Baader im Hochsicherheitstrakt von Stammheim in den späten 70ern hatte er mit der Geschichte der RAF und ihren Zielen sympathisiert. Das ging so weit, dass er zusammen mit ein paar Kumpels in der Nacht zum 1. Mai 1979 einen Brandsatz in ein Kaufhaus geworfen hatte. Eher eine Auswirkung des Alkohols und eine Laune der späten Stunde denn eine überlegte revolutionäre Tat. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass der Molotowcocktail einen derart großen Schaden anrichten würde, und waren selbst schockiert, als der Laden völlig ausbrannte. Damals war er ins Visier von BKA und Verfassungsschutz geraten und nur dank der Falschaussage seines Kumpels Daniel Frey hatte er damals ein hieb- und stichfestes Alibi präsentieren können.
Becker wusste bestimmt davon und hatte die Akten zu dem Fall sicher bis ins letzte Detail studiert, davon war er überzeugt. Und garantiert hatte diese Akte seine Fantasie beflügelt. Gott sei Dank war Daniel ein paar Monate nach dem Brandanschlag nach Australien ausgewandert und inzwischen nicht mehr auffindbar. Und natürlich war die Sache längst verjährt. Aber trotzdem gab es ein beträchtliches Restrisiko. Becker hatte als Chef des Verfassungsschutzes vielfältige Möglichkeiten und konnte für eine Menge Ärger sorgen.
Wie üblich gab es eine Agenda für den Lagebericht. Joachim Josef Becker – oder »J. J. Becks«, amerikanisch ausgesprochen, wie ihn alle in seiner Abwesenheit salopp nannten – hatte eine Vorliebe für solche Formalitäten, auch wenn es nur Pippifax zu besprechen gab.
»Aktuelle Gefährdungslage«, Unterpunkt »Drohbriefe« und »Links- und rechtsradikale Gruppierungen – Update« waren die beiden Punkte, die fett und in Großbuchstaben auf dem Blatt Papier standen, das Becker zu Beginn der Besprechung jedem aushändigte. Das hörte sich beides dramatisch an, war aber völlig belanglos. Gut, dass der Spuk spätestens um 11 Uhr vorbei sein würde. Und für 15:30 Uhr hatte er sich eine Maschine der Flugbereitschaft bestellt, die ihn nach Genua bringen würde. Von dort waren es noch ungefähr 50 Minuten mit dem Auto zu seinem Palazzo am Meer. So gesehen hatte die »Aktuelle Gefährdungslage« auch ihre Vorteile. Sie erlaubte es ihm, auch für diesen Privatflug die Flugbereitschaft anzufordern. Außerdem hatte er am Montag einen Termin mit dem italienischen Innenminister in Rom. Damit war die Sache auf alle Fälle sauber.
Becker betrat den Besprechungsraum wie immer als Letzter. Nach einem kurzen Händeschütteln setzte er sich an die Stirnseite des Besprechungstisches und kam ohne jeden Umweg zur Sache. Er hatte nicht das geringste Gespür für Smalltalk.
»Herr Minister, meine Herren, wir haben die Drohbriefe inzwischen einer Reihe von Analysen unterzogen. Sie stammen eindeutig aus der gleichen Quelle. Und unsere Experten sind überzeugt, dass sie ernst zu nehmen sind. Deshalb habe ich noch ein paar zusätzliche Leute auf die Sache angesetzt. Ich denke deshalb, dass wir in Kürze weitere verwertbare Ergebnisse haben werden.« Becker verteilte einen schmalen Bericht über die bisherigen Ergebnisse in der Runde. Schneider sah ihn überrascht an.
»Von welchen Briefen reden Sie Becker? Sie meinen doch nicht etwa die Briefe von diesem Spinner? Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Da steckt nichts dahinter!«
»Unsere Experten sind da anderer Meinung. Sie halten die Briefe für sehr relevant.« Beckers Stimme klang trocken und völlig sachlich. Trotzdem glaubte Schneider einen leichte aggressiven Unterton zu hören.
»Können Sie mir eine einzige konkrete Drohung in
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