Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
konnte spüren, dass Mark gerade in einer tiefen Krise war. Er hatte etwas extrem Verletzliches. Und irgendwie machte sie das neugierig. Vielleicht war er ja doch Zielgruppe, zumindest für eine Nacht? Aber wenn, dann nur bei ihm, damit sie die Spannung einer fremden Wohnung mitnehmen konnte.
»Es ist schön hier mit Ihnen. Ich fühle mich wohl. Bei mir zu Hause ist das ganz anders. Ich wohne seit fast fünf Jahren in meiner Wohnung und fühle mich immer noch wie ein Fremder. Manchmal wache ich auf und sehe die Möbel um mich herum und habe das Gefühl, es alles ist so unwirklich.« Er sah sie wieder mit dieser vollkommenen und hilflosen Offenheit an. Und diese Offenheit hatte eine Kraft. Ihr Radar checkte das sofort. Hier hatte sie keine Chance, ein Spiel zu spielen, ihr Spiel zu spielen. »Ich möchte mit jemandem reden, einfach mal über alles reden, aber ich habe es bis jetzt noch nicht geschafft, Freunde zu finden. Ich kenne einfach niemanden, mit dem ich reden könnte, außer Dr. Langer. Er ist der einzige, mit dem ich in all der Zeit wirklich geredet habe. Er kennt mich so gut wie sonst niemand. Ich schaffe es einfach nicht, auf Menschen zuzugehen.« Er senkte die Augen und machte eine Pause.
»Aber du hast mich kennengelernt und du redest mit mir.« Sie war sich etwas unsicher, fast unbeholfen kam ihr vor, was sie sagte.
»Ja, hier kenne ich mich aus, das ist die Wohnung von Dr. Langer, hier war ich schon öfter.« Mark machte eine lange Pause.
»Noch einen Kaffee?«
»Oh ja, gern.« Er ließ die Tasse, die er bis jetzt krampfhaft festgehalten hatte, los und reichte sie ihr.
Sarah war froh, dass sie für ein paar Minuten Marks Aura verlassen konnte und ließ sich Zeit mit dem Aufbrühen des Kaffees. Als sie ins Zimmer zurückkam, saß Mark immer noch in der gleichen Haltung auf seinem Stuhl. Er nahm die Tasse entgegen und klammerte sich sofort wieder daran fest.
»Manchmal habe ich das Gefühl, alles wiederholt sich, genau gleich, immer wieder. Ich greife zum Beispiel nach einem Buch im Regal und habe das Gefühl, dass ich genau die gleiche Bewegung schon einmal gemacht habe, genau die gleiche Bewegung, mit genau dem gleichen Gefühl, den gleichen Empfindungen. Alles ist exakt gleich bis auf das Buch, das einen gelben Einband hat satt einen schwarzen zum Beispiel.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Manchmal habe ich Angst, verrückt zu werden. Darum tut es gut, jetzt mit Ihnen zu sprechen. Danke.«
Mark schwieg und nahm in kurzer Folge kleine Schlucke aus seiner Tasse. Dann stand er plötzlich mit einem Ruck auf. »Aber jetzt muss ich gehen. Danke, es war schön, mit Ihnen zu reden. Darf ich sie wieder besuchen?«
»Ja, klar, gern…« Sarah war perplex über den plötzlichen Umschwung und folgte Mark reflexartig zur Tür. Dort blieb er stehen und kramte in seinen Jackentaschen.
»Sehen Sie! Den hab ich vor ein paar Tagen in einem Buch gefunden.« Er reichte ihr einen Bibliotheksausweis, der auf den Namen Mark Berger ausgestellt war. Sie verstand nicht, was das sollte, und sah ihn fragend an.
»Die Adresse, hier, Ohlauerstraße 47. Das ist in Kreuzberg. Ich hab da nie gewohnt. Ich wohne, seit ich in Berlin bin, schon immer in Friedrichshain. Ich weiß nicht, wie ich zu diesem Ausweis komme. Deshalb wollte ich mit Dr. Langer sprechen. Vielleicht kann er mir helfen. Er weiß sehr viel von mir, weil ich ihm sehr viel erzählt habe, für das Alzheimer-Programm.«
»Was ist das für ein Programm?«
»Sie sagen, er ist tot?« Erst jetzt schien Mark, zu realisieren, was sie ihm gesagt hatte.
»Ja, schon seit ein paar Wochen.«
»Sie haben mir nichts davon gesagt. Sie haben mich einfach einem anderen Interviewer zugeteilt. Haben mir gesagt, dass er für ein paar Tage auf einer Schulung ist. Ich mag den Neuen aber nicht. Er ist mir unsympathisch.«
»Alzheimer-Programm, was ist das?«, versuchte Sarah noch einmal, das Thema aufzugreifen.
»Eine amerikanische Firma, die eine Therapie gegen Alzheimer entwickelt. Ich nehme da an einer Studie teil, als Nebenjob, ist gar nicht schlecht bezahlt.« Mark öffnete die Tür und hatte es plötzlich eilig, wegzukommen. »Ich erzähle Ihnen das genauer, wenn wir uns wieder sehen. Bis dann!« Er rannte die Treppen hinunter.
Sarah wartete, bis sie die Haustür hörte, dann erst schloss sie die Tür und hängte die Sicherheitskette ein.
* * *
Christian Schneider stand an der riesigen Fensterfront seines Arbeitszimmers im obersten Stock des Innenministeriums und
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