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Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)

Titel: Spines - Das ausradierte Ich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Scherm
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blickte über die Dächer Berlins. Es war 6:25 Uhr. Die Silhouette der Stadt schälte sich langsam aus dem Morgenlicht.
    Welches Schicksal würde dieses Berlin wohl haben, in den bevorstehenden Jahrzehnten? Die Vergangenheit war nicht gerade zimperlich mit der Stadt umgesprungen. Die Narben, die davon zeugten, konnte Christian Schneider auch jetzt noch, zwei Jahrzehnte nach Vollendung der Einheit, deutlich ausmachen.
    Wenn er den Blick über Spreebogen, Regierungsviertel und Brandenburger Tor hinaus über Berlin Mitte schweifen ließ, konnte er den Verlauf der Mauer und des Todesstreifens immer noch nachvollziehen. Die großen Brachflächen, die die Bomben der Alliierten in die Berliner Stadtmitte gerissen hatten, waren noch in weiten Teilen unbebaut oder ätzten sich durch ihre hässliche Architektur schmerzhaft ins Blickfeld. Und dazu gehörten leider auch die Neubauten im »Nirwana« des Regierungsviertels. Wenn er ehrlich war, fand er sie zum Kotzen. Sein Ministerium am Spreebogen, das an ein Doppelschiff erinnerte, war im Vergleich dazu ein elegantes Gebäude, eingebettet in ein gewachsenes Stadtviertel. Um ihn herum gab es in einem aufwendig renovierten Innenhof alles, was er brauchte. Er schätzte die Restaurants in dem lang gestreckten Hallengebäude neben dem Ministerium, den Italiener Scusi oder die Alte Meierei mit ihrem hellen Gewölbe. Und auch jenseits des Innenhofs gab es normales Leben.
    Seit er Innenminister war, hatte er sich der strengen Amtsdisziplin immer wieder mal entzogen und war alleine draußen Spazieren gegangen, durch den Park gegenüber oder die Alte Moabiter entlang, vorbei an der Vollzugsanstalt ins Regierungsviertel hinüber. Dabei hatte er gern in einem der vielen Cafés Zwischenstation gemacht, um einen Cappuccino zu trinken. Aber seit er vor fünf Wochen nach einem Besuch in seinem Lieblingsrestaurant bedroht worden war, hatte er den Innenhof des Ministeriums nur noch in der gepanzerten Limousine verlassen. Zu groß war seine Angst, dass jemand im Dunkeln draußen auf ihn lauern könnte.
    Als in den Medien kontrovers diskutierter Politiker bekam er täglich jede Menge Briefe und E-Mails. Und gelegentlich enthielten diese Briefe auch Drohungen und Beschimpfungen. Die meisten davon konnte man glücklicherweise gleich beim ersten Lesen als harmlos einstufen.
    Ganz anders verhielt es sich aber mit einer Reihe von Briefen, die er seit Monaten mit absoluter Regelmäßigkeit erhielt. Sei waren alle von der gleichen Machart und eindeutig vom selben Absender. Und sie waren gefährlich, das spürte er sofort.
    Der Schreiber behauptete, ihn von früher zu kennen. Ende der 70er hätten sie zusammen öfter Schach gespielt. Und die Details, die er in diesem Zusammenhang andeutete, stimmten alle. Er musste zumindest einmal im Café Voltaire gewesen sein. Dort hatte Schneider jeden Samstag und Sonntag die späten Vormittage mit Frühstücken und Schachspielen verbracht. Aber Schneider konnte sich, so sehr er auch nachdachte, an niemanden erinnern, der zu den Briefen gepasst hätte.
    Wenige Tage, nachdem er den dritten Drohbrief erhalten hatte, stand der Schreiber plötzlich vor ihm. Er hatte gerade das Restaurant verlassen, in dem er zu Abend gegessen hatte, und war auf dem Weg zu seinem Wagen, als ihm ein Mann auffiel, der ihm auf der anderen Straßenseite mit kurzen schnellen Schritten folgte. Der Gehstil des Mannes war ihm sofort aufgefallen, manchmal betont langsam Schritt für Schritt und dann wieder eine hektische, fast gerannte Passage dazwischen geschaltet. Hypernervös und irritierend.
    Plötzlich war der Mann verschwunden. Und genauso plötzlich, wie er verschwunden war, tauchte er unmittelbar neben ihm wieder auf, als er seinen Wagen erreicht hatte und die Autotür öffnete. Er spürte den Atem des Mannes auf seiner Wange, so nah stand er neben ihm. Und jetzt strahlte er nicht mehr die geringste Hektik aus, sondern wirkte vollkommen ruhig, ohne jeden Hauch von Nervosität.
    Christian Schneider bekam Angst. Jetzt bereute er, dass er seine Personenschützer für den Abend nach Hause geschickt hatte.
    »Bist dir wohl zu gut, um mir zu antworten?«, hatte ihn der Mann gefragt und, ohne eine Antwort abzuwarten, weiter gesprochen. »Hast wohl alles vergessen, was wir zusammen erlebt haben? Und was ich für dich getan habe? Kann es sein, kann es wirklich sein, dass dir das jetzt alles egal ist? Hältst du das alles jetzt für Scheiße, nur weil du jede Menge Kohle kriegst und so eine schicke

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