Spines - Das ausradierte Ich (German Edition)
Realität überhaupt eine Frau? Oder war es ein Mann, ein Schwuler? Er selbst hätte sich ja auch jederzeit einen weiblichen Avatar wählen können. Diese Vorstellung erschreckte Mark, aber zugleich spürte er einen extremen Reiz. Er musste unbedingt mehr über Sal erfahren.
Mit den Steuerungstasten setzte er seinen Avatar in Bewegung und folgte ihr. Es fiel ihm schwer, an ihr dran zu bleiben. Er kam mit der Richtungsnavigation über die Pfeiltasten der Tastatur noch nicht so zurecht, während Sal sich geschmeidig und mit großer Schnelligkeit bewegte. Plötzlich hatte er sie aus den Augen verloren und versuchte eine schnelle 360 Grad Drehung. Dabei verlor er die Orientierung, stürzte einen Abhang hinunter und fand sich plötzlich unter Wasser wieder. Er versuchte zu schwimmen und tauchte langsam wieder nach oben. Plötzlich kam Sal auf ihn zu geschwommen. Sie schwebte durch das Wasser und lächelte ihn an. Dabei schien sie ohne jede Mühe zu atmen, während ihm langsam die Luft ausging. Die Sauerstoffblasen, die aus seinem Mund quollen, wurden immer spärlicher. Auf seinem Gesicht zeigten sich Spuren von Angst. Aber Sal kam nahe an ihn heran, legte sich um ihn und berührte seine Lippen sanft mit den ihren. Dann nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn hinter sich her zum Ufer.
Seit Mark in Otherworld war hatte er noch kein Wort gesprochen. Jetzt öffnete er sein Kommunikationsfenster und tippte ein paar Wörter ein. Augenblicklich hörte er seinen Avatar sprechen: »Du heißt Sal? Ist das dein wirklicher Name?«
»Es macht keinen Sinn, diese Frage hier zu stellen. Das ist gegen die Regeln. Es spielt keine Rolle hier. Lass uns lieber drüber reden, was du magst!«
Mark fiel nichts ein.
»Du nennst dich ‚Catcher’. Es gibt da ein Buch. Kennst du das?«
»Du kennst Salinger? Hast du das Buch gelesen?«
Sal antwortete nicht. Stattdessen fing sie an zu schweben, legte ihre Beine um ihn und bewegte sich auf und ab. Das schien ein wichtiges Zeichen bei ihr zu sein. »Komm, ich zeig dir was!«, sagte sie und schwebte langsam davon. Mark folgte ihr.
Sal führte ihn zu ihrem Haus. Es war ein schlanker Turm, dessen Architektur einer Sonnenblume ähnelte. Den Rand der Blüte bildete ein Stahlring an dem die Zimmer einzeln aufgehängt waren. Als Verbindung zwischen den Zimmern fungierte ein komplexes Geflecht von gläsernen Zwischengängen. Von hier oben hatte man einen grandiosen Blick über Otherworld .
Zielstrebig führte Sal ihn zu einem großen Buch, das in einem der Zimmer vor einem riesigen Fenster offen auf dem Boden lag. Sanft legte sie ihre Hand auf das Buch und strich mit leichter Geste über die Seiten. Auf diese Wiese blätterte sie durch den Text, ohne eine Seite zu bewegen und zeigte ihm einige Stellen, die sie markiert hatte. Mark war verwundert. Es waren die gleichen Stellen im »Fänger im Roggen«, die auch ihm gefielen. Die meisten davon konnte er auswendig.
Er sah Sal an und versuchte zu ergründen, wer sie war. Wer verbarg sich hinter dieser Gestalt? Einen mimischen Ausdruck hatte dieser Avatar nicht. Das war noch nicht Stand der Technik. Seine Haltung, seine Träume, seine Wünsche konnte man nur durch die Attribute ausdrücken, die man seinem Avatar mitgab, durch die Art des Kleids, durch einen Federnschmuck, durch eine bestimmte Art von Bewegungen oder durch die Form der Augen und ihre Farbe. Das waren Dinge, die man manipulieren konnte. Sal hatte sich eine amphibische Gestalt gegeben. Sie war im Wasser zu Hause, sie konnte schweben. Ein Ausdruck von Freiheit, fand Mark.
»Ja, ich liebe dieses Buches sehr«, sagte Sal und strich mit ihrer Hand liebevoll über die Texte.
»Ich würde dich gerne draußen kennen lernen. Wo lebst du?«, fragte Mark unvermittelt und spürte, wie das Verlangen nach Sal sich in ihm ausbreitete.
»Das ist gegen die Regeln. Wir werden uns niemals in der richtigen Welt kennenlernen. Das ist das Gesetz von Otherworld , Catcher. Nach dieser Regel funktioniert Otherworld . Wer sie nicht akzeptiert, gehört nicht hierher.« Sal hatte augenscheinlich nicht die geringste Lust, weiter über das Thema zu reden. »Komm mit mir. Ich werde dir zeigen, warum Otherworld viel mehr zu bieten hat als die Welt, die du kennst. Hier kann jeder seine Träume leben.« Sie streckte die Hand nach ihm aus, legte sich quer in die Luft und schwebte davon. Mark folgte ihr.
Eine Weile streiften sie durch die unterschiedlichsten Landschaften von Otherworld , bis sie schließlich eine kleine
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